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auch Dandy, der sich von den Eigendynamiken von Narrativ und Medium gleicher-
maßen mitreißen und treiben lässt (vgl. Wirth 1997: 326). Dabei unterstreicht Wirth
jedoch auch die von Eco an anderer Stelle gemachte Feststellung, dass letztlich kein
Lesen ein passives sei: Vielmehr sei es in seiner produktiven Hervorbringung von
Sinn eine Form der »Mittäterschaft« (ebd.) – und die große noch zu schreibende Kri-
minalgeschichte wohl jene, in welcher die detektivischen Bemühungen des Lesers
ihn letztlich zu der Einsicht führen, dass er selbst der Täter war (vgl. ebd., vgl. Eco
2011: 200).
Auch Lev Manovich und Roberto Simanowksi bedienen sich dieser Metaphern,
um zu beschreiben, was genau der Hypertextleser eigentlich leistet, wenn er sich im
Netz der Bedeutungspartikel orientiert. Simanowski sieht hier gerade in der Figur des
Dandys − für die er den Baudelaire᾿schen Begriff des Flaneurs vorzieht − eine Um-
wendung der postmodernen emanzipatorischen Hoffnungen, die sich einst mit dem
Hypertext verbunden haben. Mit dieser gekoppelt sei nämlich nicht nur die Idee einer
Befreiung des Lesers aus dem Käfig des semantischen Gebäudes, in das ihn der Autor
linearer Texte vorgeblich eingesperrt hat, sondern auch die Angst vor einer Kultur
informativer Beliebigkeit. Solche vornehmlich von linksliberalen Intellektuellen ge-
tragenen Diskurse spielen laut Simanowski Detektiv und Flaneur gegeneinander aus:
Während der Detektiv als denkender Nutzer die den Text untermauernde Logik des
Mediums zu decodieren versucht, um gezielt bestimmte Inhalte zum Vorschein zu
bringen, überlässt der Dandy die Steuerung und Lenkung seiner Aufmerksamkeit
ganz der architektonischen Beschaffenheit des Netzwerks selbst. Dementsprechend
wandle er nur mehr auf längst ausgetretenen Pfaden und konsumiere Wissen in Form
von ›Häppchen‹, die im Vorbeigehen mitgenommen und unbesehen verschlungen
werden. Hier erscheint der Flaneur also als Symptom einer Wissenskultur, welche
die aufgeklärte Modernität, in deren Zeichen der Hypertext als Medium einst zu ste-
hen schien, einem oberflächlichen Belustigungsprinzip unterordnet. Wissen wird
nicht mehr gesucht, erarbeitet, verinnerlicht und hinterfragt, sondern von einer auf
Unterhaltungswert ausgerichteten Informationsindustrie als Ware und Spektakel in-
szeniert (vgl. Simanowski 2002: 70).
Manovich hingegen sieht den Flaneur in digitalen Netzen in sehr viel deutlicherer
Kontinuität zum großstädtischen Spaziergänger des 19. Jahrhunderts, an dem sich die
Metapher festmacht: Der Flaneur ist für ihn verkörperte Subjektivität in einem sozi-
alen Rahmen, der gleichwohl anonym ist − und entsprechend sei er gerade aus dieser
Position des Nichtbetroffenseins und der Naivität seiner Umwelt gegenüber zu For-
men der Subversion und Kritik imstande, welche dem involvierten und bewusst die
Logik des medialen Systems durchdringen wollenden Leser nicht offen stünden. Der
Netz-Flaneur nach Manovich ist ein unfrei-, indes jedoch durchaus nicht widerwilli-
ger Entdecker, der wie Mark Twains Romanheld Huckleberry Finn gerade deshalb
Dinge – Nutzer – Netze
Von der Virtualisierung des Musealen zur Musealisierung des Virtuellen
- Titel
- Dinge – Nutzer – Netze
- Untertitel
- Von der Virtualisierung des Musealen zur Musealisierung des Virtuellen
- Autor
- Dennis Niewerth
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-4232-6
- Abmessungen
- 14.8 x 22.5 cm
- Seiten
- 428
- Schlagwörter
- Virtualität, Kulturerbe, Digitalisierung, Neue Medien, Kulturmanagement, Museumswissenschaft, Digitale Medien, Mediengeschichte
- Kategorie
- Medien