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Diese steile These bildet die Realität sicher nur begrenzt ab. So frappierend die
Parallelen zwischen musealer und web-basierter Wissensorganisation und -kommu-
nikation sein mögen, die Hypertexttheorie und -praxis hat dem Museum bisher keine
besondere Aufmerksamkeit gezollt. Insofern stößt uns Parry hier also weniger auf
eine tatsächliche Evolution der Hypertextidee aus dem Erbe des Museums, als auf
einen Treppenwitz in der Theoriegeschichte des Hypertextes. So entwickelte schon
Vannevar Bush seine Memex-Idee vor allem entlang einer Metakritik an der Biblio-
thek bzw. dem alphabetischen Katalog (vgl. Bush 1945). Hätte er seinen Blick auf
das Museum gerichtet, so wäre ihm kaum entgangen, dass dieses seine Forderung
nach einem navigationsoffenen »web of trails« zwischen assoziativ arrangierten Wis-
sensbausteinen durchaus einlöst. Franz Boas᾿ im zweiten Kapitel dieser Arbeit dis-
kutierter Text Some Principles of Museum Administration nimmt seinerseits 1907
bereits einen bedeutenden Teil jener Probleme vorweg, die Bush fast vier Jahrzehnte
später in As We May Think umtreiben sollten: Beide Texte betonen die assoziative
Offenheit und Unbestimmtheit von Wissensinhalten nicht etwa als ein didaktisches
Problem, sondern als einen potenziell hochgradig produktiven Anknüpfungspunkt
für einen ermächtigten Rezipienten. Damit sind sowohl Boas᾿ als auch Bushs Texte
Traktate gegen die Linearität und die kategorialen Ordnungssysteme in der Wissens-
vermittlung.
Vielleicht ist es bereits der Begriff des ›Hypertextes‹, der einen Anhaltspunkt da-
für liefert, warum seine Theoretiker und Praktiker dem Museum keine oder kaum
Aufmerksamkeit gewidmet haben. Bush interessierte sich als Wissenschafts-Mana-
ger ganz konkret für Speicherung und Abruf schriftlich niedergelegter Forschungs-
ergebnisse. Ted Nelson antizipierte als Erfinder des Begriffs zwar bereits die Inter-
medialität digitaler Hypertexte, dachte selbst jedoch noch vorrangig in Kategorien
von Text- und Bildmaterial (vgl. Nelson 2003: 144). Auch das World Wide Web
begann seine rasante Karriere als ein Schriftmedium, das es in weiten Teilen immer
noch ist: Schnellere Internetanschlüsse haben die Übertragung von statischen Bil-
dern, Ton und Videos einfacher gemacht, ›geschrieben‹ werden müssen HTML-Sei-
ten indes nach wie vor in Buchstaben und Zahlen – auch wenn Editor-Programme
mit grafischer Oberfläche dem User diese Aufgabe weitgehend abnehmen können.
Das Museum mag eine dem Hypertext-Prinzip ähnliche Struktur vernetzter Informa-
tionseinheiten aufweisen, aber seine überwiegend nicht-schriftliche, auf dreidimen-
sionale Objekte ausgerichtete Funktionalität wäre gerade in der Anfangsphase der
Geschichte des Hypertextes kaum in ein computergestütztes System adaptierbar ge-
wesen. Zugleich verbindet sich mit dem Museum ein ganz eigenes Expertensystem,
das sich personell nur sehr begrenzt mit jenem überschneidet, in welchem die Hyper-
text-Idee zur Reife gelangt ist: Museumsleute sind üblicherweise keine Computerex-
perten. Ihre Arbeit spielt sich, um mit Manovich zu sprechen, gänzlich auf dem cul-
ture layer ab, während ihr Ausbildungshintergrund üblicherweise − sofern sie nicht
tatsächlich ein ausgewiesenes, praxisorientiertes Studium der Museumswissenschaft
Dinge – Nutzer – Netze
Von der Virtualisierung des Musealen zur Musealisierung des Virtuellen
- Titel
- Dinge – Nutzer – Netze
- Untertitel
- Von der Virtualisierung des Musealen zur Musealisierung des Virtuellen
- Autor
- Dennis Niewerth
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-4232-6
- Abmessungen
- 14.8 x 22.5 cm
- Seiten
- 428
- Schlagwörter
- Virtualität, Kulturerbe, Digitalisierung, Neue Medien, Kulturmanagement, Museumswissenschaft, Digitale Medien, Mediengeschichte
- Kategorie
- Medien