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›Virtuelle Museen‹: Medienwechsel und Kontinuität | 145
Spitzfindiger Weise könnte man hieraus schließen, dass damit natürlich alle Ob-
jekte Zeitobjekte sind, ist doch das Vergehen der Zeit zwingende Voraussetzung aller
Wahrnehmung und allen Denkens. Nichtsdestoweniger erleben wir natürlich in un-
serem alltäglichen Umgang mit der uns umgebenden Welt durchaus jene kategori-
sche Verschiedenheit von flüchtigen Zeitobjekten und sperrigen Dingen. Das Bild
auf dem Fernsehschirm ändert sich unter unserem Blick etwa zwei Dutzend Mal in
der Sekunde, während das Sofa, von dem aus wir es betrachten, uns Tag für Tag in
kontinuierlicher Gleichförmigkeit begegnet – dies ist eben jene Dauerhaftigkeit, aus
der sich nach Arendt das kulturstiftende und -festigende Moment der Verdinglichung
ableitet, und aus der heraus sich das Museum legitimiert. Das Zeitobjekt hingegen
besteht aus vergänglichen Einzelphänomenen, denen unser Bewusstsein mit Verzö-
gerung Zusammengehörigkeit verleiht – im Falle der Musik nimmt diese Zusammen-
gehörigkeit z.B. die Gestalt der Harmonie an. Wir erkennen, dass die von Instrumen-
ten und Gesang erzeugten Töne zusammen ein Objekt bilden – ein Lied, eine Sym-
phonie, eine Sonate – welches in sich geschlossen ist und welches wir klar von allen
anderen Geräuschen trennen können, die womöglich zeitgleich in unsere Wahrneh-
mung eindringen.
Die bildgebenden Verfahren, derer sich Computerinterfaces bedienen, erzeugen
indes Sichtbarkeiten, die weder im ontischen Sinne als »Dinge« zu begreifen, noch
einwandfrei unter Husserls Zeitobjektbegriff zu subsumieren sind. Dabei sind freilich
die tatsächlichen Rechenvorgänge bzw. die sie tragenden technischen Abläufe Zeit-
objekte par excellence – handelt es sich bei ihnen doch um einen Strom diskreter
Signale, die nur als Sequenz interpretiert werden können. Zugleich aber verschleiert
das Interface diesen Prozesscharakter, indem es die digitalen Objekte nicht als solche
in Erscheinung treten lässt: Ein Bild steht auf dem Monitor nicht anders als auf der
Leinwand in räumlicher Gänze vor seinem Beschauer, auch wenn der Text, der jeder
X/Y-Koordinate auf dem zweidimensionalen Bildschirm eine X/Y/Z-Koordinate aus
dem dreidimensionalen RGB-Farbkubus zuordnet (vgl. Kittler 2002: 179) zeitlich
sequenziert verarbeitet werden muss. Und natürlich sind digitale Daten nicht völlig
körperlos: Dass wir uns dieselbe Bilddatei immer wieder anschauen, dieselbe MP3-
Datei immer wieder hören, in Computerspielen dort weitermachen können, wo wir
am Vorabend unseren Spielstand gespeichert haben – all das liegt natürlich darin be-
gründet, dass digitale Speicher eine zwar unanschauliche, aber doch völlig materielle
Grundlage in der physikalischen Welt haben. Der Computer ist ein prozedurales, aber
auch in Zeiten von cloud computing und Tablet-Rechnern noch kein ephemeres Me-
dium (und deshalb ist auch das Programmieren eine im Sinne Arendts ›herstellende‹
Tätigkeit). Dass Interfaces als ein positives Etwas im Raum in Erscheinung treten
können, hängt nicht zuletzt ursächlich damit zusammen, dass sie auf Geräten sichtbar
werden, die materiell sind und im Sinne Gernot Böhmes ›ekstatisch‹ ihr Vorhanden-
Dinge – Nutzer – Netze
Von der Virtualisierung des Musealen zur Musealisierung des Virtuellen
- Titel
- Dinge – Nutzer – Netze
- Untertitel
- Von der Virtualisierung des Musealen zur Musealisierung des Virtuellen
- Autor
- Dennis Niewerth
- Verlag
- transcript Verlag
- Datum
- 2018
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-4232-6
- Abmessungen
- 14.8 x 22.5 cm
- Seiten
- 428
- Schlagwörter
- Virtualität, Kulturerbe, Digitalisierung, Neue Medien, Kulturmanagement, Museumswissenschaft, Digitale Medien, Mediengeschichte
- Kategorie
- Medien