Seite - 32 - in Diskurse des Kalten Krieges - Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur
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Nachdem sie den Großvater, der unter der ungarischen Volksdemokratie zu
leiden hat, gefunden haben, machen sie sich zu dritt auf den Rückweg. Der Groß-
vater geht allein voraus, um einen Weg durch den Minengürtel zu finden und
riskiert dabei, auf eine Tretmine zu steigen: „Erst wenn es da oben kracht und
geht in Luft, dürft ihr zurückgehen; früher nicht. Aber dann nur zurück“36 (GG
216). Abermals gelingt der Grenzübertritt. So werden Dick und Mac zu doppel-
ten Grenzverletzern, da ihnen die Überwindung der Grenze in beide Richtun-
gen gelingt.
Die Grenze zwischen Österreich und Ungarn als eine Todeszone, dem Bild-
feld der „Mordgrenze“ folgend, beschreibt auch Rudolf Henz in seinem Roman
Die Nachzügler (1961).37 Hier tritt als Grenzverletzer ein ungarischer Professor
für Geschichte namens Stefan Nagy auf, der sich vom kommunistischen Regime
abgewandt hat, womit der Verlust seiner Lehrbefugnis und ein Publikationsver-
bot einhergehen. Er muss kurz nach der Niederschlagung des Ungarischen Volks-
aufstandes 1956 das Land über die ungarisch-österreichische Grenze verlassen,
da sein Manuskript, das er den titelgebenden „Nachzüglern“ widmet, der unga-
rischen Geheimpolizei AVO in die Hände gefallen ist. Mit dem Buch will Nagy
den Beweis antreten, dass „der Marxismus hinter der tatsächlichen Entwicklung
der Menschheit hoffnungslos zurückgeblieben sei“.38 Das Phänomen „Nachzüg-
ler“ erklärt sich für Nagy auch aus den Fronten des Kalten Krieges: Diese rekru-
tierten sich aus denjenigen in Ost und West, die längst überlebte Anschauungen
und Lehren predigen und noch in der den technischen Fortschritt betreffenden
Zukunftsgläubigkeit des 19. Jahrhunderts verstrickt sind.39
Während seiner Frau Erzebeth, die als promovierte Chemikerin vom kom-
munistischen Regime zur Putzfrau degradiert wurde, die Flucht in den Westen
bereits in den Tagen vor dem Aufstand gelungen ist, erfährt Nagy erst am Ende
des Romans über das Schicksal seines Sohnes Ferencz, der gemeinsam mit Gene-
ral Pál Maléter als Anführer einer Studentenbrigade gegen die Sowjetunion
gekämpft hat. Ferencz wurde „wegen Organisierung einer katholischen Wider-
standsgruppe verhaftet, vom Volksgericht zum Tode verurteilt und hingerichtet“
(NZ 249). Nagy, der im Verlauf seiner tagebuchartigen Aufzeichnungen, die den
Erzählrahmen des Romans bilden, zunächst seinen Sohn verdächtigt, ihn und
sein Manuskript an die AVO verraten zu haben, flüchtet, nachdem seine Woh-
nung von der Geheimpolizei auf den Kopf gestellt wurde, zu Fuß in Richtung
36 Der Großvater spricht gebrochen Deutsch.
37 Rudolf Henz: Die Nachzügler. Graz: Stiasny 1961. Im Folgenden als NZ mit fortlaufender Sei-
tenzahl zitiert.
38 Herbert Berger: Die Nachzügler von Rudolf Henz, Manuskript, Radio Wien/Abteilung Litera-
tur, 21.11.1964.
39 Vgl. H. Porkert: HENZ, Rudolf: Die Nachzügler. In: Die neue Bücherei [München] 1 (1964)
H. 1.
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Diskurse des Kalten Krieges
Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur
- Titel
- Diskurse des Kalten Krieges
- Untertitel
- Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20380-3
- Abmessungen
- 15.9 x 24.0 cm
- Seiten
- 742
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918