Seite - 40 - in Diskurse des Kalten Krieges - Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur
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ders am Abend sichtbar, denn während im Ostsektor das elektrische Licht hell
strahlt, liegt der Westen im Dunkeln.56 In Johannes Mario Simmels Roman Lieb
Vaterland magst ruhig sein (1965)57 ist die „Zerreißung Berlins“, in Form der
Berliner Mauer bzw. der innerdeutschen Grenze, der narrative Kern der Erzäh-
lung. Es ist aber nicht nur dieses Symbol der Teilung, das Simmel thematisiert,
sondern auch die Unterwanderung der Grenzen in Form von Republik- bzw.
Tunnelflucht, die zu einem Movens der Erzählung wird.
Simmel beschreibt detailliert die 1400 Kilometer lange Grenze, die die westli-
chen Besatzungszonen von der sowjetischen besetzten Zone seit 1945 trennt. Den-
noch bleibt ein mit der Berliner Mauer einhergehendes literarisches Problem beste-
hen, denn die „Tatsache ihrer Existenz war so ungeheuerlich, dass es schwierig war,
die Mauer realistisch wahrzunehmen und zu beschreiben“.58 Simmel beschreibt,
gestützt auf dokumentarisches Material die Mauer in ihrer Ausdehnung im Raum
und schildert ihren Verlauf detailliert, „Hintergrund und Nebensachen in seinem
Roman“ 59 sind, wie ein Rezensent festgestellt hat, authentisch. Trotzdem wirkt sein
Deskriptionsversuch beinah aberwitzig, findet er doch kein literarisches Bild, um
sie zu fassen, sondern operiert vielmehr präzise wie ein Landvermesser:
Quer durch die Riesenstadt läuft die Mauer, mit Stacheldrahtverhauen, Wacht-
türmen, Betonsperren, Stahlbarrieren, Sichtblenden, Scheinwerfern und Stolper-
drähten. Tja, aber manchmal ist gerade eine Häuserfront die Grenze des Demo-
kratischen Sektors, oder sie läuft durch die Spree oder den Wannsee. Im Wasser
kann man keine Mauer bauen. Da patrouillieren Tag und Nacht Motorboote der
Volksarmee. […] Heute sind 50 Hauseingänge, 67 Läden und 1235 Fenster ver-
mauert – auf einer Strecke von 750 Metern. […] An der Ostseite [der Hasenauer-
straße] verbindet die richtige Mauer zwei vermauerte, leere Häuser. Auch auf den
Dächern dieser Gespensterhäuser hat man Drahtsignalsperren und Stolperdrähte
angebracht. Damit keiner, juppheidi, juppheida, vom Dach eines fünf- oder sechs-
stöckigen Gebäudes springt. (LV 31 f.)
Die Mauer manifestierte die Prinzipien der geteilten Welt in ihrer unwiderruf-
lichen und absoluten Natur,60 was sich auch in den jeweilig dafür verwendeten
Begriffen äußerte. Der Osten bezeichnete sie als einen „antifaschistischen
Schutzwall“ gegen die imperialistischen Aggressoren aus der Bundesrepublik
56 KHS: Im blockierten Berlin. In: Arbeiter-Zeitung, 17.3.1949, S. 5.
57 Johannes Mario Simmel: Lieb Vaterland magst ruhig sein. München, Zürich: Droemer Knaur
1965. Im Folgenden als LV mit fortlaufender Seitenzahl zitiert.
58 Doris Liebermann: Die Berliner Mauer in der deutschen Literatur. In: Anke Kuhrmann, Dies., Annet-
te Dorgerloh (Hg.): Die Berliner Mauer in der Kunst. Berlin: Links 2011, S. 199–328, hier S. 201.
59 Reinhard Baumgart: Mit feuchtem Könnerauge. In: Der Spiegel, 22.12.1965, S. 102.
60 David L. Pike: Wall and Tunnel. The Spatial Metaphorics of Cold War Berlin. In: New German
Critique 37 (2010) H. 110, S. 73–94, hier S. 74.
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40 1 Die Grenze
Diskurse des Kalten Krieges
Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur
- Titel
- Diskurse des Kalten Krieges
- Untertitel
- Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20380-3
- Abmessungen
- 15.9 x 24.0 cm
- Seiten
- 742
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918