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gen [waren], im Glauben, daß es nicht weit sei“ (G 79), finden aber keine befes-
tigte Absperrung zwischen Österreich und Ungarn vor, wie sie etwa die Arbei-
ter-zeitung beschreibt, die nur an Grenzstationen zu überschreiten ist und
hinter der ein breiter kahler Streifen als „Niemandsland“ dafür sorgt, dass die
Menschen nicht aus der Volksdemokratie ausbrechen können.98 Dies wirft ein
deutliches Licht auf die Bewertungen des Eisernen Vorhangs aus den unter-
schiedlichen politischen Perspektiven. Während unter antikommunistischen
Vorzeichen diese Grenze ähnlich einer Gefängnismauer gezeichnet wird, welche
Flucht verhindern und westliche Augen abhalten soll, reduziert sie sich in der
kommunistischen Version des Grenz-Diskurses auf eine kaum wahrnehmbare
politische Trennlinie. In Katz’ Roman erklärt ein ungarischer Beamter den Buben,
warum es überhaupt eine Grenze zwischen Ost und West geben müsse; schuld
seien die „Feinde unseres Landes“, die „nicht wollen, daß es in einem Lande oder
in vielen Ländern so ist wie bei uns. Und deshalb müssen wir sehr vorsichtig
sein und können nur Leute mit Pässen und Visa hereinlassen“. (G 101) Die Gren-
ze erscheint aus dieser Perspektive als Schutzwall gegen die „Feinde“ der kom-
munistischen Staaten, nicht als Gefängnismauer, welche die Flucht der Menschen
aus dem Ostblock verhindern soll.
Die Kinder treffen nach der Grenze auch nicht auf bedrohliche russische Sol-
daten, sondern auf ein ungarisches Bauernpaar, das freundlich auf die Kinder
reagiert und sie, obwohl sie sich nicht miteinander verständigen können, auf
ihrem Hof aufnimmt. Insofern besteht hier nur das Problem einer Sprachgrenze,
die auch thematisiert wird: „Warum die auf der anderen Seite der Grenze nur eine
andere Sprache reden? Wenn man verstehen könnte, was sie reden, und wenn
wir mit ihnen reden könnten, wäre vielleicht alles leichter.“ (G 82) Selbst die
ungarischen Gendarmen, von denen die Buben am Hof überrascht werden, nach-
dem sie sich dort von ihrer strapaziösen Reise ausgeruht haben, wollen ihnen
nichts Böses: „Nicht Angst. Alle gut Leute“ (G 87), erklärt ihnen einer der Gen-
darmen in gebrochenem Deutsch. Keine Rede also von „unglaublichen Zustän-
den“, einem „Eisernen Vorhang“, einer „gefährlichen Grenze“, Tretminen und
Bluthunden. Hier wird niemand ausgesperrt, hier ist auch niemand eingesperrt.
Was Ost und West hier trennt, sind die unterschiedlichen Sprachen, vor allem
aber die gegensätzlichen Gesellschaftssysteme, so die ideologische Botschaft der
Grenzbuben. Das begreifen sogar – oder zuallererst – die Kinder. Was die Erzäh-
lung freilich noch mehr interessiert als die Grenze, ist das, was dahinter vorgeht.
Die „Grenzbuben“ können durch ihren Übertritt davon nun aus eigener Erfah-
rung berichten und so reiht sich Katz’ Kinder- und Jugendbuch in den damals
höchst aktuellen Diskurs fiktionaler und faktualer Augenzeugenberichte aus der
Welt des Kommunismus ein, die im folgenden Kapitel im Zentrum stehen.
98 vgl. F. K. [= Franz Kreuzer]: Die kahle Grenze. In: Arbeiter-Zeitung, 9.2.1949, S. 5.
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54 1 Die Grenze
Diskurse des Kalten Krieges
Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur
- Titel
- Diskurse des Kalten Krieges
- Untertitel
- Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20380-3
- Abmessungen
- 15.9 x 24.0 cm
- Seiten
- 742
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918