Seite - 59 - in Diskurse des Kalten Krieges - Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur
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können sie sich – so ihre Überzeugung – nur durch eine Reise, durch Augen-
zeugenschaft, verschaffen. Auch dies entspricht einer Gattungskonvention der
faktualen Reiseerzählungen der kommunistischen Publizistik: Regelmäßig wird
darauf hingewiesen, dass hier tatsächliche Erfahrungen wiedergegeben würden.
In Katz’ Buch erfahren die drei Kinder das fremde Land ‚mit eigenen Augen‘
und erleben es als angenehme und freundliche Umgebung. Als ihr Hund bei-
spielsweise ungarischen Bauern Brot und Fleisch stiehlt, um es den hungrigen
Kindern zu bringen, reagieren die Bauersleute, sobald sie die Lage erkannt haben,
nicht strafend, sondern geben den Kindern Schlafplatz und Essen.11 Auch die
Behörden, an welche die Ausreißer weitergeleitet werden, versuchen auf freund-
liche und geduldige Weise, ihr Vertrauen zu gewinnen. Insgesamt zeichnet sich
das Ungarn dieses Romans als gastfreundliches, wirtschaftlich aufstrebendes,
gut organisiertes, aber keineswegs bürokratisches Land aus. Für das leibliche
Wohl der Kinder wird gesorgt und als eines erkrankt, wird es im Spital versorgt
und seiner Mutter die Einreise ermöglicht.
Dennoch zweifeln die Buben immer wieder an der Ehrlichkeit der ungari-
schen Erwachsenen, vor allem, da ihre Zusammenkunft mit Ernstl durch diver-
se Besichtigungen ständig hinausgezögert wird. Als sie ihren Schulkollegen
schließlich in einem Ferienlager antreffen, müssen sie aber anerkennen, dass er
bei der ungarischen Jugendorganisation der Pioniere, die auf Selbstbestimmung,
Zusammenarbeit und Produktivität basiert, besser aufgehoben ist als im öster-
reichischen Waisenhaus, das von einem sadistischen Erzieher12 geleitet wird. So
haben die Schulkameraden bei allem Zusammenhalt schließlich Verständnis,
als Ernstl erklärt, dass er nicht mit ihnen nach Österreich zurückkehren wird.
Immerhin importieren sie aber die Ideen, die sie bei den Pionieren kennenge-
lernt haben, nach Österreich, wo diese begeisterte Aufnahme und Nachahmung
finden. Schon während ihrer Abwesenheit haben die Ausreißer „wundervolle
Briefe“ (G 202) an ihre Eltern geschrieben, um sie zu beruhigen. Lehrer Albert
macht den Eltern den Vorschlag, diese Berichte zu veröffentlichen:
11 Die Freigiebigkeit der Bevölkerung im Gastland wird auch in einer Rumänienreisebroschüre
von Susanne Wantoch ausgestaltet: Österreichische Intellektuellendelegation in die RVR (1954)
(Hg.): 16 Tage im neuen Rumänien. Bericht über die Studienreise einer Gruppe österreichi-
scher Intellektueller durch die Rumänische Volksrepublik. Wien: Globus 1955. [Verantwortlich
für den Inhalt: Susanne Wantoch.]
12 Die negativen Erzieherfiguren möchte die „Lektorin“ des Kinderbuchverlages stärker politisch
gedeutet wissen: „Sie müssen zu vorsätzlichen Reaktionären werden, die die ‚öffentliche Mei-
nung‘ vergiften, unerbittlichen [sic!] jeden Fortschritt im Keime zu ersticken versuchen [...]
Der Hass der Erzieher gegen Ernstl und Ralph darf nicht nur aus deren Armut resultieren,
sondern vor allem aus ihrer Herkunft von bewussten proletarischen Eltern, [...].“ Lieselotte
Fleck an den Kinderbuchverlag (Berlin), Betrifft: Leo Katz – „DIE GRENZBUBEN“. Brief vom
10.12.1950. Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Nachlass Leo Katz, 169/01.
59Ein
Land – zwei Perspektiven
Diskurse des Kalten Krieges
Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur
- Titel
- Diskurse des Kalten Krieges
- Untertitel
- Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20380-3
- Abmessungen
- 15.9 x 24.0 cm
- Seiten
- 742
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918