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der klassenlosen, solidarischen Gesellschaft Ungarns zuhause fühlt,15 suchen
Dick und Mac ihren Großvater als den einzigen noch verbleibenden Blutsver-
wandten. Beim ehemaligen Nationalsozialisten Keller steht nicht zufällig die
biologische Familie gegenüber der international vertretenen ‚Klasse‘ der mar-
xistischen Ideologie als gesellschaftlicher Bezugspunkt im Vordergrund.
In Gefährliche Grenze wird die Lebensumgebung der Buben in Österreich
betont vielschichtig gezeichnet. Neben hilfsbereiten und wohlwollenden Men-
schen finden sich auch Diebe und Betrüger. Damit wird – unabhängig davon,
ob Keller Die Grenzbuben kannte – ein Gegenentwurf zur schematischen Per-
sonenzeichnung in Katz’ Jugendroman geschaffen, wo das kommunistische Arbei-
termilieu im Westen und das sozialistische System im Osten jedenfalls Freund-
lichkeit und Menschlichkeit der Personen bedingen. In Kellers Roman werden
somit individuelle Gründe für menschliche Verhaltensweisen den gesellschaft-
lich bedingten vorgezogen. Ein weiterer auffälliger Unterschied ist, dass in Gefähr-
liche Grenze Ungarn als sowjetisch besetztes Land dargestellt wird, während in
Die Grenzbuben bei der Bevölkerung hinter der Grenze ausschließlich von
‚Ungarn‘ die Rede ist:
Ungarn war ein fernes Land zu nennen, seit fremde und wenig gut gesinnte Sol-
daten dort geboten, Russen –, und Großvater, der dort seinen Acker bebaute und
darüber alt geworden war, lebte nun verstummt wie auf einer Sageninsel, von der
nur hin und wieder, selten genug, ein Briefgruß hierher ins Haus flatterte. (GG 20)
Ebenso wie in Die Grenzbuben stehen die Lebensbedingungen der ungarischen
Bevölkerung in Gefährliche Grenze zur Debatte. Die Reaktion eines „Zigeun-
er[s]“ (GG 114) und Grenzschmugglers auf die Erwähnung des Wohnortes des
Großvaters lässt Schlimmes vermuten: „‚Dort is Ruß! Wajßt du?‘ Dick und Mac
starrten einander verlegen an. ‚Ja‘, antwortete Mac unsicher. ‚Und dort is Groß-
vater?‘ Sie nickten. Der Mann im Grase wehrte lachend ab. ‚Is Tot! Is Tot!‘ rief
er.“ (GG 123)
Als sie schließlich den Eisernen Vorhang überschreitend das „Land der Frem-
de“ (GG 197) betreten, sprechen die verlassenen Häuser – Mac erfindet den
Ausdruck „Totenhaus“ (GG 195) – bereits eine deutliche Sprache: „Sie fanden
das Haus verschlossen, die Fensterläden zugezogen, den Hausgarten unbestellt.
grund stehen, welche in Gefährliche Grenze implizit dementiert werden. Vgl. dazu Kap. 9.
15 Einer der Buben, Ralph, der insgeheim Heimweh nach seiner Mutter hat, wird es sogleich
„warm ums Herz“, als eine unbekannte ungarische Bäuerin ihm über den Kopf streicht. (G 82)
Ernstl erzählt: „[A]ls ich ins erste Dorf kam, klangen mir die Worte so bekannt. [...] ich habe
ja die anderen Kinder immer beneidet, daß sie Eltern haben. [...] Aber hier, wenn ich mich
noch so sehr nach Eltern sehne, hier fühle ich mich wie zu Hause.“ (G 173 f.)
61Ein
Land – zwei Perspektiven
Diskurse des Kalten Krieges
Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur
- Titel
- Diskurse des Kalten Krieges
- Untertitel
- Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20380-3
- Abmessungen
- 15.9 x 24.0 cm
- Seiten
- 742
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918