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Literatur der Zeit. So entstanden in Österreich unterschiedliche Reise- und
Migrationserzählungen, die auf je spezifische Weise dieses Motiv aufgreifen. Die
zeitgenössische Bedeutung der Augenzeugenschaft ist freilich erst vor dem Hin-
tergrund der Grenzpolitik der Sowjetunion und später des gesamten Ostblocks
zu verstehen. Schon das zaristische Russland schottete sich gegen ausländische
Reisende stärker ab als andere Länder. Ebenso kontrollierte das nach der Okto-
berrevolution etablierte Sowjetsystem die politische Gesinnung Einreisender
mit Misstrauen. In den 1930er-Jahren wurde ein rigides Kontrollsystem für Ein-
reisende installiert, das nach einer totalen Aufhebung von touristischen Einrei-
sebewilligungen ab 1941 im Jahr 1954 wiederaufgenommen wurde.16 Die stren-
gen Grenzkontrollen wurden nach 1945 auf die sowjetisch kontrollierten Länder
ausgedehnt, wobei auch die Grenzbefestigungen des Eisernen Vorhanges ent-
standen. Die Abgeschlossenheit des Raumes jenseits des Eisernen Vorhanges
bewirkte im Westen dessen Mythisierung17 und seine Aufladung mit Imagina-
tionen. Er wurde zum Projektionsraum für politische wie literarische Utopien
und Dystopien, für Wünsche und Ängste, Propaganda und Gegenpropaganda.
Eines der Propagandaprogramme, das sich im Österreich der Nachkriegszeit
in den Diskurs über die ‚Wahrheit‘ hinter dem Eisernen Vorhang einschaltete,
bestand in der Organisation von Besichtigungsreisen für ausgewählte Delegati-
onen oder auch Einzelpersonen in sowjetisches Gebiet. Diese fanden allerdings
unter Bedingungen statt, die im Vorhinein mit den sowjetischen Behörden
abgestimmt werden mussten. Die Delegationsmitglieder wurden von staatlich
beauftragten Personen begleitet und bekamen im Regelfall ein dichtes Besichti-
16 Vgl. Matthias Heeke: Reisen zu den Sowjets. Der ausländische Tourismus in Rußland 1921–
1941. Mit einem bio-bibliographischen Anhang zu 96 deutschen Reiseautoren. Münster, Ham-
burg, London: Lit 2003. Ders.: Reisen nach Moskau: Organisierte Trampelpfade der Fremd-
wahrnehmung? In: Walter Fähnders [u.a.] (Hg.): Berlin, Paris, Moskau. Reiseliteratur und die
Metropolen. Bielefeld: Aisthesis 2005, S. 169–190. Ders.: Mit Intourist durch die UdSSR. Der
bundesdeutsche Sowjetunion-Tourismus. In: Hasso Spode (Hg.): Goldstrand und Teutonen-
grill. Kultur- und Sozialgeschichte des Tourismus in Deutschland 1945–1989. Berlin: Moser
1996, S. 163–183.
17 Die mythisierende Dimension der Auseinandersetzung mit der Sowjetunion zeigt sich auch in
den Titeln der frühen Auseinandersetzungen mit den stalinistischen Verbrechen, etwa Arthur
Koestlers berühmter Roman über die Moskauer Schauprozesse Sonnenfinsternis (engl. Dar-
kness at Noon) (1940), oder der Bericht über die Verbrechen der UdSSR an den Polinnen und
Polen The Dark Side of The Moon (1946). Vgl. Arthur Koestler: Sonnenfinsternis [1940]. Coes-
feld: Elsinor 2011. Zoë Zajdlerowa: The Dark Side of The Moon. London: Faber & Faber 1946.
Robert Neumann hat eine Parodie auf Koestlers Roman verfasst: Robert Neumann: Besonnte
Finsternis. Nach Arthur Koestler. In: Ders.: Mit fremden Federn. Der Parodien zweiter Teil.
Wien, München, Basel: Desch 1955, S. 217–220. Und: Ders.: Die Parodien. Wien, München,
Basel: Desch 1962, S. 476–478, vgl. auch ebd., S. 539.
Die Rhetorik der Augenzeugenschaft 63
Diskurse des Kalten Krieges
Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur
- Titel
- Diskurse des Kalten Krieges
- Untertitel
- Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20380-3
- Abmessungen
- 15.9 x 24.0 cm
- Seiten
- 742
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918