Seite - 68 - in Diskurse des Kalten Krieges - Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur
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beschreibt, zeugen deutlich von dem Versuch, die Wahlheimat zu idealisieren.
So berichtet er etwa von einem DDR-Bürger namens Kurt Kracht, der tagsüber
der Fischerei nachgeht und abends an der Universität regelmäßig Vorträge hält.
Man fühlt sich angesichts dessen einerseits an die Utopie der kommunistischen
Gesellschaft von Karl Marx erinnert:
[…] wo Jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich
in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Pro-
duktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu
tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach
dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt
oder Kritiker zu werden.44
Andererseits evoziert der Text auch das klassische Ideal des ‚ganzen Menschen‘,
wenn Bronnen über den „Gelehrten“45 schwärmt: „Er [Kracht] zeigte mir später
ein Foto von sich im Badeanzug: es wäre eine herrliche Aufgabe für einen Bild-
hauer, einen solchen athletisch schönen Körper aus dem Stein herauszumei-
ßeln.“46 Neben körperlichen und geistigen Vorzügen bestechen die Protagonis-
ten des ‚Wintermärchens‘ – ähnlich wie in Katz’ Die Grenzbuben – auch durch
Hilfsbereitschaft, Selbstlosigkeit und Freigiebigkeit.
Wie fast alle Reiseberichte, die den Propagandabestrebungen der Sowjetuni-
on zuarbeiten, basiert auch Bronnens Text auf der narrativen Strategie, dass eine
angeblich fragliche Sachlage durch eigene Erfahrung geklärt werden soll. Deutsch-
land – kein Wintermärchen ist als Sammlung von Briefen angelegt, die an Bron-
nens in Wien verbliebene Frau gerichtet werden. Diese figuriert als zweifelnde
Instanz, die von ihrem Mann überzeugt werden soll:
Du hast recht, zu schreiben, daß Du Dich nicht gleich entscheiden kannst. Du
hast recht, zu sagen, daß nicht nur das neue Land ein Wagnis ist, sondern auch
der neue Mensch. [...] während ich dir erzähle und während du mir zuhörst,
44 Karl Marx, Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie. Kritik der neuesten deutschen Philoso-
phie in ihren Repräsentanten Feuerbach. B. Bauer und Stirner, und des deutschen Sozialismus
in seinen verschiedenen Propheten [1845–1846]. In: Dies.: Werke. Bd. 3. Hrsg. v. Institut für
Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Berlin: Dietz 1969, S. 11–530, hier S. 33.
45 Bronnen: Deutschland, S. 28.
46 Ebd., S. 25. Derselbe Aspekt wird in einschlägigen kommunistischen Reisebroschüren betont:
„Es ist offenbar nicht so, daß die Millionen studierenden Sowjetmenschen aus dem Arbeiter-,
bzw. Bauernstand, dem sie entstammen, herausstreben, sondern daß die Grenzen zwischen
geistiger und körperlicher Arbeit immer mehr verschwimmen“. Österreichisch-Sowjetische
Gesellschaft (Hg.): Wir waren im Sowjetland. Bericht von zehn Österreichern verschiedener
Parteizugehörigkeit über ihre Reise im Mai 1950. Wien: Globus 1950, S. 38.
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68 2 Reisen ins Rote – Augenzeugen hinter dem Eisernen Vorhang
Diskurse des Kalten Krieges
Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur
- Titel
- Diskurse des Kalten Krieges
- Untertitel
- Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20380-3
- Abmessungen
- 15.9 x 24.0 cm
- Seiten
- 742
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918