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Das Problem der notwendigen Verfehlung der Wahrheit im Erzählen von
Geschichte wird in Federmanns Roman eingehend reflektiert. Der Ich-Erzähler
zeigt immer wieder die Grenzen der ‚Wahrheitstreue‘ seiner Erzählung auf, wenn
er etwa auf Unsicherheiten in der Erinnerung hinweist, Schicksale von Wegge-
fährten, die er aus den Augen verloren hat, nur imaginativ rekonstruieren kann,
wenn er die Erwartungen seiner Geld- und Auftraggeber als Einflussfaktoren
benennt oder unterschiedliche Möglichkeiten zu erzählen reflektierend neben-
einanderstellt. Dieser jede absolute Wahrheit in Frage stellende Erzählmodus
verhindert aber nicht die detaillierte, kritische Auseinandersetzung mit dem
Stalinismus (vgl. Kapitel 4: Totalitarismus) und den darin kursierenden Lügen,
die an die Stelle der politischen Utopie getreten sind. Dem Zwang zur Lüge ist
auch Schindler selbst ausgesetzt, denn in Stalins Sowjetunion ist es lebensge-
fährlich, der Parteilinie zu widersprechen, auch wenn diese als verlogen und
falsch durchschaut worden ist. Das lernt Schindler rasch im Umgang mit seinem
Mitbewohner in Moskau:
Wenn er mit dem Fußball fertig war, würde er mir die neue politische Weltlage
erklären, die aber eigentlich die alte war, und ich würde mich kaum zurückhalten
können, ihn mit Faustschlägen zu traktieren, ich würde mich aber zurückhalten
müssen, denn auch mir war nichts anderes beschieden, als mit lächelnder Miene
zu lügen und mich unter die schützende Decke des großen, allgemeinen Einver-
ständnisses zu ducken. (HL 273)
Schindlers mehr sozialdemokratische denn kommunistische Gesinnung und
seine privaten Verbindungen zu Österreich bringen ihn innerhalb des stalinis-
tischen Parteiapparats in Moskau in Verruf. Er wird zu ständigen Beteuerungen
seines Einverständnisses mit der offiziellen Parteilinie genötigt. Bald gibt er dort
seine journalistische Tätigkeit auf und meldet sich zum Militärdienst, da er
„genug davon [hatte], der Welt eine tatenfroh grinsende Miene zu zeigen, wäh-
rend sich Angst und Ungeduld, Wut und Trauer immer tiefer in [ihn] einfraßen,
genug davon, den spärlich beschenkten und dankbar dienernden Eiferer zu mar-
kieren“. (HL 284)
Trotz aller Anpassung wird Schindler aufgrund einer Denunziation verhaftet
und erlebt das Leben in sowjetischen Gefängnissen mit Verhören und der Nöti-
gung zur Unterzeichnung unwahrer Geständnisse. Nur durch persönliche Inter-
vention der einflussreichen Familie seiner Geliebten, die ein Kind von ihm erwar-
tet, wird er aus der Haft entlassen und – wiederum auf Intervention – als
Redakteur in eine abgelegene Gegend versetzt, wo er zu Untätigkeit verdammt
ist und zu trinken beginnt. Er bereut bald und gründlich, die Sowjetunion als
Exilland gewählt zu haben, ohne deswegen zum Antikommunisten zu werden.
Schindler kämpft als Rotarmist gegen Hitlerdeutschland und kommt als Ange-
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76 2 Reisen ins Rote – Augenzeugen hinter dem Eisernen Vorhang
Diskurse des Kalten Krieges
Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur
- Titel
- Diskurse des Kalten Krieges
- Untertitel
- Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20380-3
- Abmessungen
- 15.9 x 24.0 cm
- Seiten
- 742
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918