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bestärkt, der Heimat den Rücken zu kehren und durch das Tor des Festspiel-Are-
als in die westliche Welt Wiens hinauszugehen. Obwohl er aber schon mehrere
Tage in Wien weilt, hatte er seiner Ansicht nach noch nicht die Gelegenheit, die
Stadt und die Menschen ‚richtig‘ kennenzulernen, da er sich bisher nur als Dele-
gierter und unter Führung von kommunistischen Aktivisten umsehen konnte:
PETER Mir kommen alle Städte gleich vor, durch die ich mit einer Delegation
gehe.
SOSIA Aber die Menschen, die darin wohnen?
PETER Von denen weiß ich nur eines: So, wie man sie uns schildert, sind sie nicht.
SOSIA Du meinst, man weiß nicht, wie sie wirklich sind? (GF 234)
Peter und Sosia stellen sich über den Westen dieselbe Frage, wie die bisher bespro-
chenen Texte über den Osten: Wie sind die Verhältnisse auf der anderen Seite
des Eisernen Vorhangs wirklich? Wie leben die Menschen hier wirklich – jen-
seits der zum Überdruss bekannten Propagandadarstellungen? Und wie die Figu-
ren der Reiseerzählungen wagen die beiden Jugendlichen den Schritt ‚hinüber‘.
Was sie zu sehen bekommen, befriedigt sie jedoch nicht. Einzelne Österreicher
bekunden sogar Sympathien für autoritäre Elemente des Sowjetsystems, wenn
sich etwa ein Polizist von der eisernen Disziplin im kommunistischen Jugend-
lager beeindruckt zeigt, da ihn diese an das Jahr 1938 erinnert. (GF 237) Merz/
Qualtingers Mittelstück thematisiert hier, wie auch ihr berühmtester Text, der
Herr Karl, das Fortleben faschistischer Mentalitäten in der österreichischen
Bevölkerung. Eine weitere Parallele in der Darstellung des prototypischen Öster-
reichers ist der selbstgefällige Rückzug auf die österreichische Neutralität, die
als Ausrede dient, sich jeder politischen Verantwortung zu entziehen. So erklärt
ein Kaufmann, der an wirtschaftlichen Ost-West-Kontakten interessiert ist, den
beiden Ostblock-Jugendlichen: „Politik ist mir wurscht. Ich bin Österreicher,
ich bin neutral.“ (GF 239 f.)78 Merz und Qualtinger nützen in Geisterbahn der
Freiheit das Narrativ der Reise auf die andere Seite des Eisernen Vorhangs zur
Kritik am achtlosen Umgang mit demokratischen Errungenschaften in Öster-
reich. Die Menschen sind zwar frei von diktatorischen Zwängen, wissen aber
mit dieser Freiheit nichts anzufangen.
Für die Augenzeugen aus dem Osten, die sich ein klares Bild vom gesellschaft-
lichen Gegenmodell im Westen machen möchten, sind diese Begegnungen aber
höchst frustrierend, sind die Österreicher doch weit von dem politischen Ideal
eines aufgeklärten, demokratischen Citoyen entfernt. Die Jugendlichen sind rat-
los und suchen weiter nach der richtigen Auskunftsperson: „es muß doch mög-
78 Die entsprechende Stelle im Herrn Karl lautet: „i hab kan Kontakt mit der Atombomben. Es
ist außerhalb meines Interessensgebietes
... Ich überlaß das anderen Menschen. Ich bin nur ein
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80 2 Reisen ins Rote – Augenzeugen hinter dem Eisernen Vorhang
Diskurse des Kalten Krieges
Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur
- Titel
- Diskurse des Kalten Krieges
- Untertitel
- Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20380-3
- Abmessungen
- 15.9 x 24.0 cm
- Seiten
- 742
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918