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lich sein, mit irgend einem vernünftigen, normalen Menschen zu sprechen ...!
Rein objektiv.“ (GF 241) Aber selbst der beim Heurigen getroffene leutselige
Nationalrat meint, dass bei all dem freien Reden und politischen Debattieren
ohnehin „nichts […] herauskommt“ (GF 248). Die essentielle Frage, ob eine
Flucht vorteilhaft wäre, verlangt eine Sicht auf die westliche Welt „wie sie wirk-
lich ist“:
Ob man sich so entschließen soll? Oder anders? Wie die Menschen im Westen
sind? Was sie tun? Wie sie denken? Ob du mit ihnen auskommen wirst? [...] Ich
möchte diese Welt doch nur eine Sekunde lang sehen, wie sie wirklich ist. (GF
243)
Als dann auch der einzige nicht satirisch gezeichnete Österreicher, ein Gast beim
Heurigen, „der erste Mensch hier, mit dem ich reden kann“ (GF 253), trotz sei-
ner Ablehnung des Kommunismus ein recht ernüchterndes Bild vom Leben im
Westen zeichnet, gibt Peter seine Fluchtpläne endgültig auf. Den Schlussmono-
log des Gastes, der die Freiheit im Westen trotz alledem hoch hält, hören die
beiden Ostblock-Jugendlichen dann gar nicht mehr, er ist eigentlich als politi-
sche Conclusio ans Publikum gerichtet: „Die Freiheit ist nicht umsonst zu haben,
sie ist eine sehr kostbare Sache und deshalb ist sie auch stärker und dauerhafter
als alles, was eine Diktatur je zu bieten hat.“ (GF 255) Diese Erkenntnis ist aber
den österreichischen Figuren des Stückes (und dem Publikum) mehr ins Stamm-
buch zu schreiben als den beiden jugendlichen Besuchern aus dem Osten.
Auch das Drama Straße ohne Ende (UA: 12. Juni 1963 im Burgtheater)79 des
österreichischen Dramatikers Hans Friedrich Kühnelt setzt sich mit dem The-
ma der Flucht in den Westen auseinander und auch hier wird die westliche Welt
keineswegs als ideal gezeichnet. Wie Merz und Qualtinger ist er keineswegs
kommunistischer Sympathien verdächtig, dennoch übt er Kritik am kapitalisti-
schen System. Seine Stücke sind nur mäßig erfolgreich. Die Arbeiter-Zeitung
schreibt zum 50. Geburtstag Kühnelts:
Ein Stück von ihm – ‚Ein Tag mit Edward‘ – ist im Akademietheater vierzigmal
vor ausverkauftem Haus gespielt worden, ein anderes – ‚Straße ohne Ende‘ – ist im
Burgtheater mehr oder weniger durchgefallen. Insgesamt dürfte es ein Dutzend
kleiner Österreicher innerhalb einer unabhängigen Nation
...“ Merz/Qualtinger: Der Herr Karl,
S. 184.
79 Hans Friedrich Kühnelt: Straße ohne Ende. Schauspiel in 10 Bildern. [auch: Der Boden unter
den Füßen]. [UA:
12.6.1963, Burgtheater, ebenfalls 1963 Stadttheater in Augsburg.] Vom Autor
[unleserliches Wort] Fassung 1962. Typoskript: Wien, München: Sessler [im Folgenden abgek.
SE]. Reisen ins gelog’ne Land 81
Diskurse des Kalten Krieges
Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur
- Titel
- Diskurse des Kalten Krieges
- Untertitel
- Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20380-3
- Abmessungen
- 15.9 x 24.0 cm
- Seiten
- 742
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918