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dieser zu einer Entdeckungsreise in seine sowjetische Umgebung auf. Nach einer
Reihe von Abenteuern kehrt er allerdings wieder in seinen Käfig zurück. Aus
kommunismuskritischer Perspektive ist der Schluss klar: „Die Quintessenz ist,
daß der Affe sich in seinem Käfig freier gefühlt hat als unter den Bedingungen,
denen die Sowjetmenschen in ihrer sogenannten Freiheit unterworfen sind“, so
Milo Dor und Reinhard Federmann.85 Diese – politisch eindeutig interpretie-
rende86 – Nacherzählung bringt Soschtschenkos Text in Verbindung mit dem
Augenzeugendiskurs: Der Affe sieht nun die Wirklichkeit der Sowjetunion –
jedoch nicht als freie, fortschrittliche und menschengerechte Umgebung, son-
dern als schlimmer als seinen Käfig. So haben auch Stalin und Shdanow die
Erzählung gelesen, doch was im Westen begrüßt wurde, führte in der Sowjet-
union zu einer scharfen Verurteilung durch das Zentralkomitee der KP und
einem Schreibverbot für den Autor.87
In Neumanns Parodie Die Entschaltung (1955) werden die Autoren und Auto-
rinnen der DDR von der Leitung des zentralen Schriftstellerverbandes, dem
„Vorstand des Gesamtdeutschen Unpolitischen Schriftstellerverbandes in Pan-
kow“ aufgefordert, die westlichen Anschuldigungen, die sowjetische Regierung
halte ihre Bürger und auch Kunstschaffenden in Unfreiheit, zu dementieren.
Dabei wird angeregt, gerade die Erzählung Soschtschenkos, dessen Schreibver-
bot nach Stalins Tod wieder aufgehoben worden ist, als Beleg der Selbstkritik-
fähigkeit der sowjetischen Literatur zu betrachten:
Wir erinnern in diesem Zusammenhang an den nur ganz vorübergehend von
provokatorischer Seite zum Schweigen gebrachten Genossen Sostschenko, der
mit seiner meisterlichen Kurzgeschichte vom Affen, der nach einer Besichtigung
der Sowjetunion freiwillig in den Käfig zurückkehrt, schlagartig gerade jene ost-
menschliche Freimütigkeit und Kritikfreudigkeit unter Beweis gestellt hat, die
eben jetzt außenpolitisch – [Hier bricht der Text ab; d. Verf.]88
85 Milo Dor, Reinhard Federmann: Der Schriftsteller und die Macht, Vorwort. In: Dies. (Hg.):
Gemordete Literatur. Dichter der russischen Revolution. Salzburg: Otto Müller 1963, S.
7–26,
hier S. 22.
86 Vgl. dagegen David Caute: Politics and the Novel during the Cold War. New Brunswick [u.a.]:
Transaction Publ. 2010, S. 213 f.: „In fact, Stalin had been angered by what was in essence a
tale for children describing the escape of a female ape from the zoo of a city under bombarde-
ment. Finding nothing to eat and the citizens standing in absurd lines for food, the ape gets
her bunch of carrots by apelike means. Stalin’s ire against the longterm offender Zoshchenko
led to a Central Committee resolution accusing the satirist of ‚slanderously presenting Soviet
people as primitive, uncultured and stupid.‘“
87 Vgl. Dor, Federmann, Der Schriftsteller, S. 23. Das Schreibverbot wurde 1953 aufgehoben, 1956
wurden einige von Soschtschenkos Texten wiederaufgelegt.
88 Robert Neumann: Die Entschaltung [aus: Mit fremden Federn II, 1955]. In: Ders.: Die Paro-
dien, S. 331–336, hier S. 331.
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84 2 Reisen ins Rote – Augenzeugen hinter dem Eisernen Vorhang
Diskurse des Kalten Krieges
Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur
- Titel
- Diskurse des Kalten Krieges
- Untertitel
- Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20380-3
- Abmessungen
- 15.9 x 24.0 cm
- Seiten
- 742
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918