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Zugleich versucht die DDR-Literaturelite Soschtschenkos Geschichte vom
entlaufenen Affen mittels absurder Wendungen zu einem linientreuen Text
umzuschreiben. So fingiert Neumann einen Text des DDR-Nationalpreisträgers
Friedrich Wolf, in dem dem Affen großes Interesse an der ‚Sowjetwelt‘ unter-
stellt wird, was darin gipfelt, dass er eine Verwandlung zum Sowjetmenschen
durchmachen möchte, die sogar eine biologische Umwandlung mittels ‚Hybri-
disierung‘89 vorsieht: „Nach seiner Rundreise durch die Sowjetwelt, in die es ihn
unwiderstehlich aus seinem Zwinger herausgetrieben hat, ist sein Wissensdurst
unstillbar. Er will sehenden Auges in einen Sowjetmenschen emporhybridisiert
werden.“90 Der Affe figuriert hier als wissbegieriger Beobachter und schließlich
konversionswilliger Anhänger der Sowjetunion, der von Neumann auch mit den
zahlreichen, die Sowjetunion bereisenden „Friedensdelegierte[n] aus aller Welt“91
verglichen wird.
Knapp vor seiner ‚Verwandlung‘ im Operationssaal zeigt der Affe jedoch, dass
er die Logik der kommunistischen Propaganda bereits internalisiert hat, denn
er verlangt, den Akt der Überzeugung und Konversion zum Kommunismus nicht
ohne Zeugen vor sich gehen zu lassen: „Affe (sich aufrichtend): Genossen! Ich
habe es mir überlegt. Mein Drang, in einen Sowjetmenschen emporhybridisiert
zu werden, ist unwiderstehlich. Aber geschieht es jetzt, zeugenlos, so wird die
Lügenpropaganda des Westens es niemals glauben.“92 Damit wird auf die pro-
pagandistische Funktion hingewiesen, die den von kommunistischen Organi-
sationen verbreiteten ‚Augenzeugenberichten‘ zugrunde liegt. Die Figur des
89 Der Begriff der Hybridisierung spielt auf die Theorien des Biologen Trofim Lyssenko an, über
den die Zeitschrift Der Spiegel am 25.7.1962 schreibt: „Lyssenko [...], mit drei Stalin-Preisen
und sieben Lenin-Orden ausgezeichneter russischer Biologe und dank seiner Theorie über die
Vererbung von Umwelteinflüssen Erfinder des ‚Sowjet-Menschen‘, 1956 von Nikita Chruscht-
schow [...] seines Postens als Präsident der sowjetischen Landwirtschaftsakademie enthoben,
1961 wieder eingesetzt und acht Monate später erneut vom Präsidentenstuhl entfernt, erfreut
sich neuerdings wieder der Huld des Kreml-Chefs.“ N.N.: Personalien. In: Der Spiegel,
25.7.1962, S.
64. Erst nach dem Ende der Ära Chruschtschow wurden Lyssenkos Theorien auch
in der Sowjetunion verworfen. Im Tagebuch wurden die Nachrichten über Repressionen der
Gegner Lyssenkos dementiert. Vgl. Fritz Jensen: A. Z.-Lyssenko und die Wahrheit. In: Tage-
buch
5 (1950) H.
13, 24.6.1950, S.
6. Seine und Mitschurins Theorien gelten als moderne Bio-
logie. Vgl. Hans Grümm: Ein Buch, das zusammenfaßt. In: Tagebuch
5 (1950) H.
18, 2.9.1950,
S. 5. Die spätere sowjetische Kritik an Lyssenkos Theorien wird im Tagebuch reflektiert und
aufgenommen. Vgl. Engelbert Broda: Lyssenko – Der Geist und der Buchstabe. In: Tagebuch
13
(1958) H. 2, Februar 1958, S. 3.
90 Neumann hat den entsprechenden Textabschnitt später einer dramatischen Szenenfolge mit
dem Titel Theatralisches Panoptikum eingefügt. In der vorliegenden Parodien-Ausgabe ist er
nur dort abgedruckt. Robert Neumann: Theatralisches Panoptikum 4, nach Friedrich Wolf
[1958/59]. In: Ders.: Die Parodien, S. 536–542, hier S. 540. [Hervorhebung im Originaltext].
91 Neumann: Die Entschaltung, S. 335.
92 Neumann: Theatralisches Panoptikum, S. 541. Das Reise-Narrativ in Satire und Parodie 85
Diskurse des Kalten Krieges
Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur
- Titel
- Diskurse des Kalten Krieges
- Untertitel
- Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20380-3
- Abmessungen
- 15.9 x 24.0 cm
- Seiten
- 742
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918