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… Es war im April des Jahres 188.. Ich war gezwungen meine Wohnung zu
wechseln. Mein Hausherr hatte sein Haus verkauft und der neue Besitzer war
entschlossen, das Stockwerk, in welchem mein bescheidenes Zimmer sich
befand, ungeteilt zu vermieten. Ich suchte lange nach einem anderen –
erfolglos. Endlich nahm ich des Suchens müde fast ungeschaut ein
Kämmerchen im dritten Stock eines Gebäudes, dessen Längsseite keinen
unbedeutenden Teil der engen Seitengasse einnahm.
Mein Zimmer erschien mir gleich in den ersten Tagen recht heimlich.
Durch die beiden kleinen Fenster, deren vielfach geteilten Scheiben das Alter
des Hauses erraten ließen, schaute ich weit über graue und rote Dächer, über
rußige Schornsteine hinweg die blauen Berge und konnte die aufgehende
Sonne betrachten, die als glühende Kugel auf dem verschwommenen
Hügelrand lehnte. Meine eigenen Möbel die ich hatte herbeischaffen lassen,
machten den beengten Raum wohnlicher, als ich anfangs hoffte, und die
Bedienung, die die Hausbesorgerin übernommen hatte, ließ nichts zu
wünschen übrig. Die Treppe war nicht allzusteil und konnte unmerklich
erstiegen werden, ja, wenn ich in Gedanken hinanschritt, fühlte ich mich gar
verleitet, bis auf den Dachboden zu klimmen. Kurzum ich war zufrieden,
zumal in dem dunklen Hofe weder Kinder spielten noch – Leierkästen.
Jahre sind ins Land gegangen seither. – Die Zeit, von der ich erzähle, liegt
für mich im Dämmern der Vergangenheit, und die grellen Farben der
Ereignisse sind verblaßt und verschwommen. Mir ist, als spräche ich von
einer Begebenheit, die nicht mir selbst, sondern einem Anderen, vielleicht
einem guten Freund zugestoßen ist. Ich muß daher nicht befürchten, daß mich
die Selbstliebe zu einer Lüge verleitet: ich schreibe offen, klar und
wahrheitsgemäß.
Ich war nicht viel zuhause damals. Früh um halb acht ging ich ins Amt,
speiste mittags in einem billigen Gasthause und verbrachte so oft es anging
den Nachmittag im Hause meiner Braut. Ja, ich war verlobt damals. Hedwig –
ich will sie so nennen – war jung, liebenswürdig, gebildet und – was in den
Augen meiner Genossen am schwersten ins Gewicht fiel – reich. Sie
entstammte einer älteren Kaufmannsfamilie, die es durch Sparsamkeit und
Fleiß endlich dahin gebracht hatte, ein Haus zu führen, das auch die jungen
Kavaliere gerne besuchten, weil bei aller Vornehmheit ein ungezwungener
Frohsinn dort herrschte, der die Langeweile nicht aus den Teetassen steigen
ließ. Die jüngste Tochter des Hauses, Hedwig, war übrigens jedermanns
Liebling, weil sie mit ihrer Bildung eine gewisse liebenswürdige
Leichtfertigkeit vereinte, die die gleichgültigste Unterhaltung interessant und
reizvoll machte. Sie besaß mehr Herz und Gemüt, als die beiden älteren
Schwestern, war aufrichtig, heiter, und – es ist gewiß, daß ich sie liebte. –
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Buch Die Näherin"
Die Näherin
- Titel
- Die Näherin
- Autor
- Rainer Maria Rilke
- Datum
- 1894
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 10
- Kategorien
- Weiteres Belletristik