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mich zu meinem eigenen, größten Bedauern gezwungen sehe, die Verlobung
mit meiner Tochter aufzuheben. Ich dachte Hedwig einem Manne
anzuvertraun, den keine anderweitigen Verpflichtungen binden. Derartige
Erfahrungen seinem Kinde möglichst zu ersparen, ist Vaterpflicht. Sie
werden, geehrter Herr von B … , mein Vorgehen verstehen, wie auch ich
überzeugt bin, daß Sie mich selbst gewiß noch rechtzeitig von der Lage der
Dinge unterrichtet hätten. – Im Übrigen stets der Ihre … «
Wie mir zumute war, ist schwer zu beschreiben. Ich liebte Hedwig. Ich
hatte mich in die Zukunft, die sie selbst so reizend entworfen hatte, schon
eingelebt. Ich konnte mir mein Schicksal ohne sie nicht denken. Ich weiß, daß
mich zuerst ein heftiger Schmerz übermannte, der mir Tränen in die Augen
trieb, ehe ich Zeit fand nachzudenken, welchem Einflusse ich diese
sonderbare Zurückweisung zu verdanken hatte. Denn sonderbar war sie auf
jeden Fall. – Ich kannte Hedwigs Vater, der die Gewissenhaftigkeit und
Gerechtigkeit selbst war, und wußte, daß nur ein bedeutendes Ereignis ihn zu
diesem Vorgehen erwogen haben konnte. Denn er achtete mich und war zu
besonnen mir Unrecht zu tun. Ich schlief die ganze Nacht nicht. Tausend
Gedanken durchkreuzten meinen Kopf. Endlich gen Morgen entschlummerte
ich vor Müdigkeit. Beim Erwachen bemerkte ich, daß ich vergessen hatte, die
Tür zu verriegeln. Indessen sie war nicht bei mir gewesen. Ich atmete
erleichtert auf.
Ich kleidete mich eilig an, entschuldigte für ein paar Stunden mein
Fernbleiben vom Amte und eilte zur Wohnung meiner Braut. Ich fand das Tor
verschlossen, und als auf mein wiederholtes Läuten niemand erschien, dachte
ich sie seien ausgefahren. Der Hausbesorger könnte ja leicht im Hofe
beschäftigt sein. Wo er die Glocke nicht hörte. – Ich beschloß am Nachmittag
zur gewöhnlichen Stunde zu kommen.
So tat ich auch. – Der Hausbesorger öffnete, machte erstaunte Augen und
sagte, ich müßte ja doch wissen, daß die Herrschaften abgereist seien. Ich
erschrak, tat aber, als sei ich von Allem unterrichtet, und verlangte nur Franz,
den alten Diener zu sprechen. Der erzählte mir denn auch haarklein, daß Alle,
Alle abgereist seien, nachdem gestern nachmittag eine merkwürdige Szene
sich abgespielt hätte.
»Ich stand«, so sprach er, »hier im Vorraum, putzte die Tafelbestecke, als
ein Frauenzimmer heruntergekommen und elend eintrat und mich ersuchte,
sie zu Fräulein Hedwig zu führen. Natürlich gab ich nicht nach, – man muß
die Leute doch erst kennen … « Ich nickte eifrig. – Mir kam ein Gedanke …
»Na und kurz und gut«, fuhr der schwatzhafte Alte fort, »sie macht auf meine
Weigerung hin solange ein Geschrei und ein Gezeter, bis der gnädige Herr
heraustrat. Den bat sie nun und beschwor, sie bringe wichtige Nachrichten. Er
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Buch Die Näherin"
Die Näherin
- Titel
- Die Näherin
- Autor
- Rainer Maria Rilke
- Datum
- 1894
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 10
- Kategorien
- Weiteres Belletristik