Page - 19 - in Algorithmuskulturen - Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit
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1. Was sind Algorithmuskulturen? 19
Zwei erst kürzlich erschienene Artikel haben sich dieses Trends angenommen
und dessen Entwicklung in verschiedenen Settings untersucht, einmal in Be-
zug auf Filme (Hallinan/Striphas 2014), das andere Mal in Bezug auf Musik
(Morris 2015). Netflix, und vor allem der Netflix-Prize sind hier in vielerlei Hin-
sicht emblematisch. In einem 2006 gestarteten Wettbewerb schrieb Netflix
1 Millionen US-Dollar Preisgeld für denjenigen aus, der die Treffgenauigkeit
ihres Empfehlungsalgorithmus’ über die Richtgröße von 10 Prozent erhöhen
konnte. Unter Computerwissenschaftlern in den USA und in Übersee war der
Wettbewerb ein enormer Erfolg, was Hallinan und Striphas dazu veranlasste,
darin ein Signum dafür zu sehen, wie »Fragen kultureller Kompetenz und
Autorität zunehmend im Gebiet der Technik und der Ingenieurwissenschaf-
ten entschieden werden« (Hallinan/Striphas 2014: 122). Allerdings ist das nur
ein Teil der Gleichung. Der andere Teil betrifft die ökonomische Logik bzw.
die ökonomische Zielsetzung, die das Bestreben nach solcherart personali-
sierter Empfehlungen hervorruft. Hallinan und Striphas bezeichnen dies als
»geschlossene kommerzielle Schleife«, in der »die Entwicklung elaborierter
(Kauf-)Empfehlungen eine höhere Kundenzufriedenheit schafft, diese wie-
derum generiert größere Mengen an Kundendaten, welche wiederum noch
ausgeklügeltere Empfehlungen ermöglichen usf.« (ebd.). Wo das Prozessie-
ren von Informationen zum Schlüsselfaktor wird, verschiebt sich das, was als
Kultur gilt stärker in Richtung Daten, Data-Mining, und den Wert, den diese
erzeugen. Jeremy Wade Morris beobachtet in seiner Studie zu Echo Nest, ein
Programm zur Erstellung von Geschmacksprofilen, das der Musik-Streaming-
Dienst Spotify im Jahr 2014 erworben hat. Die Verwaltung riesiger Datenban-
ken und neue Methoden des Trackings von Verhaltensmustern basieren Morris
zufolge zunehmend »auf der Wirkmacht der Algorithmen […], zu wissen, was
Dich und Deine Geschmäcker ausmacht« (Morris 2015: 456). Dies wiederum
öffnet die Tür zu sehr zielgenauen und vielgliedrigen Werbemöglichkeiten«
(ebd. 455). Diese Tendenz ist in der Tat sehr stark, sie ist allerdings nicht die ein-
zige, die hier eine gewichtige Rolle spielt. Morris Erörterung ist scharfsinnig
genug, um in der Verbreitung der von Menschen unterhaltenen Playlists eine
alternative Form der Kuration zu erkennen, an der die heutigen Programme
und Plattformen nicht vorbeikommen. Diese, wenn man so will, Mensch-zu-
Mensch Geschmacksdialoge sind noch immer Bestandteil der meisten Strea-
ming-Dienste und fungieren als ein Mittel, mit dem gegebenen Überfluss an
Inhalten zurechtzukommen. Automatisierte wie ›manuelle‹ Verfahren des
Gatekeepings koexistieren also mehr oder minder einhellig nebeneinander und
befinden sich in komplexen, oftmals impliziten und heiklen Spannungsver-
hältnissen.
Die sich gegenwärtig formierende datenintensive Ökonomie und Kultur,
ist denn auch Gegenstand in Lucas Intronas Beitrag zu unserem Band. Die
Genealogie der Onlinewerbung nachzeichnend, analysiert er gegenwärtige
Algorithmuskulturen
Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit
- Title
- Algorithmuskulturen
- Subtitle
- Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit
- Author
- Robert Seyfert
- Editor
- Jonathan Roberge
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3800-8
- Size
- 14.8 x 22.5 cm
- Pages
- 242
- Keywords
- Digitale Kulturen, Medienwissenschaft Kultur, Media studies, Technik, Techniksoziologie, Kultursoziologie, Neue technologien, sociology of technology, new technologies, Algorithmus
- Category
- Technik