Page - 76 - in Algorithmuskulturen - Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit
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fekten von Algorithmen auf kulturelle Praktiken und Sinnstrukturen zu su-
chen, die innerhalb einer solchen Erzählung freilich meist besorgniserregend
erscheinen.
Wir würden sicherlich zu kurz greifen, wollten wir einfach belehrende und
warnende Geschichten über die Mechanismen der Produktion und Distribu-
tion und ihrer Effekte erzählen. Ebenso fehlgehen würden wir, wollten wir
beruhigende Fabeln darüber erzählen, wie Algorithmen lediglich auf genui-
ne Bedürfnisse der Öffentlichkeit antworten. Beide Erzählungen stellen für
sich genommen intellektuelle Irrtümer dar, welche die Kulturwissenschaften
umtreiben. Kultur ist aber immer ein Produkt von diesen beiden korrespon-
dierenden, wenngleich nicht isomorphen Kräften (Bourdieu 2011). Kulturelle
Artefakte werden in Erwartung auf den Wert gestaltet, den Personen ihnen
zuschreiben könnten und in Hinblick auf die Mittel entwickelt mithilfe derer
sie zirkulieren. Zirkulieren kulturelle Artefakte, so treffen wir sie stets inmit-
ten einer Ansammlung anderer Objekte an und wir schenken ihnen innerhalb
dieser Beachtung. (Mukerji/Schudson 1991) Überdies ist die Kultur sich dieser
Korrespondenz bewusst, sie ist sich ihrer selbst bewusst und verhält sich re-
flexiv gegenüber ihrer eigenen Konstruktion. Wenn wir kulturelle Artefakte
konsumieren, fragen wir uns mitunter durchaus, was der Konsum dieser Kul-
turgüter über uns selbst aussagt. Es gibt kulturelle Erzeugnisse die selbstrefe-
rentiell sind, die das Populäre als einen Schlüssel zu der Gesellschaft deuten,
für die sie hergestellt sind und in der sie Bedeutung finden. Kultur denkt über
sich selbst nach.
Die Mechanismen, durch die Kultur produziert und zirkuliert wird, wer-
den in solchen Debatten selbst hervorgebracht. Und die Zeichen der Bewer-
tung, die sie hervorbringen – Zeichen dessen, was als signifikant, populär,
berichtenswert oder interessant gilt – werden selbst zu Knotenpunkten kul-
turellen Interesses und verraten uns dadurch etwas über das ›Wir‹, für das
diese kulturellen Artefakte geschaffen wurden (Helgesson/Muniesa 2013). Wir
diskutieren nicht nur die Nachricht, die es auf die Titelseite geschafft hat, son-
dern mitunter auch die Tatsache, dass es diese Nachricht überhaupt auf die
Titelseite geschafft hat. Die Behauptung von Relevanz seitens der Zeitung, die
Mechanismen, welche die Priorisierung und Auswahl bestimmter Meldungen
anleiten, die institutionellen Kräfte, welche die moderne Nachrichtenproduk-
tion antreiben – all das kann zum Gegenstand der Diskussion werden. Die An-
zeichen dafür, dass wir ein bestimmtes kulturelles Artefakt wollen oder For-
derungen, dass wir es wollen sollen, regen uns dazu an, nach dem Warum zu
fragen. Warum ist ein bestimmtes kulturelles Artefakt populär und wie ist es
dazu gekommen? Beliefern die Künstler und Branchen, die es erzeugten uns
mit den richtigen Produkten? Sollte Kultur populär oder aufklärend sein und
werden andere Kulturformen durch gegenwärtige Prozesse verdrängt?
Algorithmuskulturen
Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit
- Title
- Algorithmuskulturen
- Subtitle
- Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit
- Author
- Robert Seyfert
- Editor
- Jonathan Roberge
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3800-8
- Size
- 14.8 x 22.5 cm
- Pages
- 242
- Keywords
- Digitale Kulturen, Medienwissenschaft Kultur, Media studies, Technik, Techniksoziologie, Kultursoziologie, Neue technologien, sociology of technology, new technologies, Algorithmus
- Category
- Technik