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3. #trendingistrending 91
haben frühe Radiosender das Gewicht von Fanpost als grobe Einschätzung
der Popularität verwendet. Die frühen und stumpfen Feedbackmechanismen
wurden nach und nach durch rationalisiertere und analytischere Vorgehens-
weisen ersetzt, um den allgemeinen Verhaltensmustern und dem allgemei-
nen Geschmack auf den Grund zu gehen. Beispielhaft hierfür sind das Auf-
tauchen neuer Berufsgruppen und Disziplinen (wie die der Psychologie) zur
Publikumsvermessung und schließlich auch das Aufkommen von Drittanbie-
tern wie Nielsen zur Erschließung von Zielgruppendaten und zum Wiederver-
kauf dieser Daten an interessierte Branchen (Napoli 2003). Diese stärker auf
konkreten Konsumdaten fundierten Ansprüche können sich allerdings nicht
gänzlich gegen die eher impressionistischen Qualitäten der Geschmacksfor-
mer und Trendsetter durchsetzen, da es auch um das Ermitteln und Generie-
ren von Popularitätswellen geht, bevor diese ihren Höhepunkt erreicht haben.
Dieser Schwenk der Zielgruppen-Metrik stellte eine Transformation der
Medienbranche und der kulturellen Werke, die diese zirkulieren ließen, dar,
insofern beide, sowohl die Zielgruppen als auch die Produkte selbst im Sin-
ne dieser Popularitäts-Metriken verstanden wurden (Napoli 2003). Jedoch war
der Aufstieg der Zielgruppendaten die Begleiterscheinung einer weiterreichen-
den Faszination für Marktumfragen und anderer messbarer sozialer Daten im
Allgemeinen (Igo 2008). In groß angelegten Projekten wie der »Middletown
Study« von Lynd, der politischen Meinungsforschung von Gallup und ande-
ren, und den Untersuchungen menschlicher Sexualität von Kinsey wurden
umfangreiche quantitative Methoden der sozialwissenschaftlichen Forschung
angewandt, um das aufkommende Interesse am Typischen und an der Ge-
samtheit zu stillen. Neben diesen Projekten nahmen die Marktforschung und
die Medien-Zielgruppen-Forschung die gleichen Methoden und Werkzeuge
auf, um ähnliche Fragen zu stellen. Das gegenwärtige öffentliche Interesse,
nicht allein an ›Trends‹ sondern auch jenes an Infographiken, Heatmaps, Prog-
nosen zukünftiger Onlineaktivität und kultureller Präferenz ist Teil einer jahr-
hundertlangen Faszination für soziale Daten und die Enthüllungsversprechen
über die Öffentlichkeit, die mit ihnen einhergehen.
Mit dem Übergang zu digitaler Produktion und Distribution wurde die
Kapazität zur Erfassung von Daten über Zielgruppenaktivitäten und Präferen-
zen seitens der Produzenten von Inhalten, der Verbreitungsplattformen und
Suchmaschinendienste radikal gesteigert. Die Verarbeitung und Ausbeutung
dieser Daten ist eine wesentliche Methode der Informationsvermittler. Die
Trending-Algorithmen sind zu einem Strukturelement der Social-Media-Platt-
formen geworden, teilweise gerade weil sie einfache und nebenbei abfallende
Datenbits von Plattformen darstellen, die direkt an die Nutzerinnen zurückge-
liefert werden können. Wir können uns die Trends als die der Nutzerin gezeig-
te Spitze eines riesigen Eisbergs vorstellen, der aus Unmengen an Nutzer-Ana-
lysen besteht, die von den Plattformen in ihrem eigenen sowie im Interesse von
Algorithmuskulturen
Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit
- Title
- Algorithmuskulturen
- Subtitle
- Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit
- Author
- Robert Seyfert
- Editor
- Jonathan Roberge
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3800-8
- Size
- 14.8 x 22.5 cm
- Pages
- 242
- Keywords
- Digitale Kulturen, Medienwissenschaft Kultur, Media studies, Technik, Techniksoziologie, Kultursoziologie, Neue technologien, sociology of technology, new technologies, Algorithmus
- Category
- Technik