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3. #trendingistrending 101
Oder, um es nochmal anders zu formulieren: Deren Algorithmizität wird be-
deutsam. Wenn CNN uns mitteilt, was auf Twitter im Trend liegt, macht dies
die Algorithmen kulturell bedeutsam. Wenn eine Gruppe von Twitter-Usern
versucht, ihren Hashtag trendy werden zu lassen, oder wenn sie den Umstand
zelebriert, dass ihr Hashtag im Trend liegt oder aber anprangern, dass er es
nicht zum Trend geschafft hat – all das macht den Algorithmus kulturell be-
deutsam. Allerdings sollte sich dies auch auf Algorithmen erstrecken, die nicht
für jede oder jeden sichtbar sind: Aktienhändler finden Bedeutung in den Al-
gorithmen, die sie nutzen, oder fühlen sich von ihnen benutzt; Immobilien-
maklerinnen haben Meinungen zu den komplexen Systemen, die heutzutage
ihr Feldwissen strukturieren; Polizeibeamte erzählen Geschichten über die
prädiktiven Analysen, die ihre Arbeitsweisen verändert haben. Immer ist dort
Kultur in die Vorrichtung involviert: nicht nur in dessen Design, sondern auch
in dessen Anwendung.
Das bringt uns zu einem aussichtsreichen Dialog. Viele haben Beden-
ken über die Ignoranz der Nutzer gegenüber den Algorithmen und deren
Auswirkungen geäußert. Allzu oft wurden hierbei die sozialen Medien oder
komplexe technische Systeme als hoffnungslos undurchschaubar oder aber
als unbedenklich transparent dargestellt. Forderungen nach einer Erziehung
für den Umgang mit Daten und die Sorgen um das Verüben von Datenmiss-
brauch seitens der Informationssysteme beherbergen die Angst davor, dass
die Nutzer nicht vorsichtig genug mit den sie umgebenen algorithmischen
Systemen sind. Ich denke aber, dass hier das unausgesprochene Zögern vieler
Nutzerinnen zumeist ebenso unterschätzt wird wie die in bestimmten Fällen
vorhandene Empörung. In Hinblick auf American Top 40 und die Trends, lässt
sich meines Erachtens eine hoffnungsvolle Reaktion auf diese Angst ausma-
chen. Nutzerinnen werden sich Gedanken über die Politik der Algorithmen
machen – nicht in einem abstrakten Sinne, wohl aber, wenn sie sich selbst, ihr
Wissen, ihre Kultur oder Community auf bestimmte Weisen widergespiegelt
sehen und diese vermeintlichen Spiegelungen selbst strittig werden. American
Top 40 und Billboard-Charts verschleierten spezifische Verzerrungen und ideo-
logische Vorannahmen. Allerdings wurden sie auch nicht unhinterfragt ange-
nommen. Obwohl sie Präferenzen verkündeten, wurden sie zum Gegenstand
eines Streits über eben jene Präferenzen. Während sie Unvoreingenommen-
heit behaupteten, wurden ihre Prämissen und ihre Verzerrungen angefochten.
Als man begann, sie hinsichtlich neuer musikkultureller Interessen als fehlan-
gepasst wahrzunehmen, wurden sie dafür gerügt, etwas Unerlässliches nicht
zu berücksichtigen. Das Ausrufen von Hits oder auch Twitters Identifikation
von Trends eröffneten einen Raum der Diskussion über alternative Trends, an-
dere Öffentlichkeiten und andere Möglichkeiten.
Übersetzt von Moritz Plewa.
Algorithmuskulturen
Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit
- Title
- Algorithmuskulturen
- Subtitle
- Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit
- Author
- Robert Seyfert
- Editor
- Jonathan Roberge
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3800-8
- Size
- 14.8 x 22.5 cm
- Pages
- 242
- Keywords
- Digitale Kulturen, Medienwissenschaft Kultur, Media studies, Technik, Techniksoziologie, Kultursoziologie, Neue technologien, sociology of technology, new technologies, Algorithmus
- Category
- Technik