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Jean-Samuel Beuscart und Kevin
Mellet108
ten 1990ern populär machte, sind sie mittlerweile im Netz allgegenwärtig. Ty-
pisch für sie ist eine Kombination aus einer numerischen Bewertung (Rating,
meist ein bis fünf Sterne) und einer schriftlichen Rezension. Die Gesamtbe-
wertung eines Produkts lässt sich aus einer Durchschnittsbewertung und den
ersten Zeilen einiger Rezensionen zusammenfassen, durch die die Nutzer frei
navigieren können. OCRs gibt es mittlerweile auf einer Vielzahl von Seiten,
insbesondere auf solchen Plattformen, die auf die Sammlung von Meinungen
spezialisiert sind (TripAdvisor, Yelp, LaFourchette), und auf Internethandelsei-
ten. Sie erstrecken sich auf eine große Vielzahl von Produkten und Dienst-
leistungen – von Hotels und Restaurants bis hin zu Bestattungsinstituten,
Büchern, Staubsaugern, Schulen und allem Möglichen dazwischen. Durch
das Zusammenführen von verstreuten Verbraucherstimmen in eine verein-
heitlichte Darstellungsform hat das Kundenbewertungssystem ganz klar einen
Großteil unserer kollektiven digitalen Intelligenz geformt. Und tatsächlich be-
rufen sich die Schöpfer dieser Seiten selbst auf demokratische Legitimität, in-
dem sie sich als die Stimme des Normalverbrauchers präsentieren. Wie bei de-
mokratischen Wahlen hat jeder Verbraucher eine Stimme und alle Meinungen
gelten als gleichwertig. So argumentierte der Geschäftsführer von TripAdvisor:
»Online-Reisebewertungen haben die Art und Weise, wie Reisende ihre Urlaube planen,
sehr stark verändert – sie bringen einen unabhängigen Blick auf Reiseziel und Aufent-
haltsort ins Spiel und dadurch eine neue Ebene der Gewissheit, dass die schwer ver-
diente Reisekasse auch klug investiert wird. […] So sieht die positive Macht von Inter-
net-Demokratie im Einsatz aus.« (Kaufer 2011)
Der Legitimitätsanspruch wird überdies durch den starken Verbraucherappe-
tit auf solche Dienstleistungen untermauert, behauptet doch eine Mehrheit
von Internetznutzern von sich, dass sie solche Seiten regelmäßig nutzen. Dies
führte zu einem greifbaren Effekt auf vielen Märkten. In der Tat zeigten meh-
rere marktwissenschaftliche und ökonometrische Studien einen signifikanten
Einfluss von OCRs auf ökonomische Aktivitäten in Branchen wie Hotel- und
Gaststättengewerbe sowie im Kulturkonsum (Beispiele dazu gibt es weiter
unten im Absatz »Wie und wo Ratings und Rezensionen zu Einsatz kommen«).
Obwohl die Praxis von Online-Ratings und Kundenbewertungen in den
Medien oft kommentiert wurde, gibt es dazu sehr wenig empirische For-
schung. Die wenigen vorhandenen Arbeiten, in erster Linie in der Soziologie
und in Organisationswissenschaften, fallen schematisch in zwei Kategorien.
Die erste untersucht die Motive derer, die häufig umfangreiche Bewertungen
beisteuern, und betont die Wichtigkeit von Anerkennung, Kompetenzsteige-
rung und Befriedigung: Aus der Sicht dieser Studien scheinen OCRs in erster
Linie das Werk semi-professioneller Bewerter zu sein (Pincher/Kessler 2010);
die einfachen Beiträger bleiben ziemlich am Rand. Die zweite Kategorie pocht
Algorithmuskulturen
Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit
- Title
- Algorithmuskulturen
- Subtitle
- Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit
- Author
- Robert Seyfert
- Editor
- Jonathan Roberge
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3800-8
- Size
- 14.8 x 22.5 cm
- Pages
- 242
- Keywords
- Digitale Kulturen, Medienwissenschaft Kultur, Media studies, Technik, Techniksoziologie, Kultursoziologie, Neue technologien, sociology of technology, new technologies, Algorithmus
- Category
- Technik