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5. Den Algorithmus dekonstruieren 141
Urteilskraft zu diskreditieren. Individuen machen ständig Fehleinschätzun-
gen: Es fehlt ihnen an Urteilsvermögen, ihre Einschätzungen sind systema-
tisch zu optimistisch, sie können zukünftige Folgen nicht antizipieren, weil
sie sich zu sehr auf die Gegenwart konzentrieren, sie lassen sich von ihren
Gefühlen leiten, leicht von anderen beeinflussen und es geht ihnen ein gutent-
wickelter Sinn für Wahrscheinlichkeit ab.3 Unterstützt durch neue Erkennt-
nisse in der Experimentalpsychologie und in Wirtschaftswissenschaften sug-
gerieren die Architekten der jüngsten Algorithmen, dass man Vertrauen nur
in das echte Verhalten von Individuen haben könne und nicht in ihre Selbst-
verlautbarungen auf sozialen Medienplattformen. Die Beobachtung globaler
Regelmäßigkeiten in einer Riesenzahl von Spuren ermöglicht Einschätzun-
gen, was Nutzer tatsächlich tun werden. Vorhersagende Algorithmen reagieren
also nicht auf das, was Leute ankündigen, sondern auf das, was sie wirklich tun
wollen, ohne es zu sagen.
eine neue methode, die gesellschaft Zu ›berechnen‹
Während immer größere Mengen an Daten akkumuliert werden, sind die Um-
wälzungen, die Big Data anrichten, vor allem durch eine Revolution in der
›Epistemologie‹ der Berechnungen charakterisiert. Daher möchten wir drei
große Verschiebungen in der zahlenmäßigen Selbstdarstellung unserer Ge-
sellschaft thematisieren: (1) eine Verschiebung in der anthropologischen Be-
rechnungskapazität, da solche Messungen viel einfacher geworden sind; (2)
eine Verschiebung in der Repräsentation sozialer Gruppen, da Kategorien die-
jenigen Individuen, die herausstechen, immer schlechter repräsentieren kön-
nen; und (3) eine Verschiebung in der gesellschaftlichen Produktion von Kau-
salität, da statistische Korrelationen nicht mehr von der Ursache zur Wirkung
fortschreiten, sondern eher wahrscheinliche Ursachen aus ihren Wirkungen
nachbilden und einschätzen. Diese Veränderungen sind eine Kampfansage an
die lange statistische Tradition, die – gemeinsam mit dem Staat – konstruiert
wurde, um die Nation auf der Basis stabiler Konventionen und deskriptiver Ka-
tegorien der gesellschaftlichen Welt zu kartographieren (Didier 2009). Diese
Tradition garantierte einerseits durch das »Gesetz des Durchschnitts« ein ge-
wisses Maß an Konsistenz und Solidität und andererseits eine Lesbarkeit, die
ausreichte, um gängige Kategorien zu erschaffen (Desrosières 2014; Boltanski/
Thévenot 1983). Aber seit den frühen 1980er Jahren hat sich die Gesellschaft
stark ausgedehnt und ist den Kategorien jener Institutionen, die sie aufzu-
zeichnen, zu messen und zu beeinflussen versuchen, entwachsen. Tatsächlich
ist die gegenwärtige Krise der politischen Repräsentation grundlegend mit der
3 | Vgl. z.B. Ayres (2007) und Pentland (2014).
Algorithmuskulturen
Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit
- Title
- Algorithmuskulturen
- Subtitle
- Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit
- Author
- Robert Seyfert
- Editor
- Jonathan Roberge
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3800-8
- Size
- 14.8 x 22.5 cm
- Pages
- 242
- Keywords
- Digitale Kulturen, Medienwissenschaft Kultur, Media studies, Technik, Techniksoziologie, Kultursoziologie, Neue technologien, sociology of technology, new technologies, Algorithmus
- Category
- Technik