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6. ›Ver-rückt‹ durch einen Algorithmus 155
Medienhistorikerin Lisa Gitelman (2004) uns vor »Entmaterialisierung« in
Theorien medialer Effekte: Nur wenn wir Medien in einem Vakuum denken,
als wären sie nie in Kontakt mit praktischer Nutzung, können wir uns diese
Klänge als wirklich »virtuell« vorstellen, als wäre Erfahrung so flexibel und
austauschbar wie Text auf einer leeren Seite. Eine derartige Verdinglichung
von Symbolen-als-Text verhindert jedoch zu verstehen, warum ein bestimmter
Akt der Mediation verführerischer sein kann als ein anderer. Audio-Techno-
logie ist immer da besonders überzeugend, wo statische Signale durch multi-
stabile Systeme, die zusätzlich zu den Signalen noch einen Kontext liefern,
ersetzt werden (Langsdorf 2006). In der Praxis sind Kontexte Situationen, die
sich aus einer Mischung aus materiellen und immateriellen Interaktionen zu-
sammensetzen. Wie wir eine Situation verstehen – wenn wir sie überhaupt
erkennen – hängt von unserer Wahrnehmung dieser Interaktionen ab. Laut
Martina Löw muss »aus der Fülle des Wahrnehmbaren eine Auswahl getroffen
werden, weshalb diese Wahrnehmung nicht direkter Natur ist. Sie vermittelt
lediglich den Eindruck von Direktheit, ist aber ein hochgradig selektiver und
konstruktiver Prozess« (Löw 2008: 41). Was wir für die Transparenz der neuen
Medien halten, ist vielmehr ein Produkt der sinnlichen »Atmosphären« (Löw
2008) oder »Hüllen« (Rawes 2008: 74), die durch den Kontakt zwischen en-
kulturierten Hörern und auditiven Situationen hergestellt werden.
Als materielle Kultur ist Klang kein passives Medium, das die Verbindung
zwischen zwei Subjekten herstellt und unterbricht, z.B. in einem Dialog.
Klang ist eher ein aktives Ereignis in einer »hyper-relationalen Welt«, die die
auditiven Bezüge und Nicht-Bezüge jener Subjekte konstituiert (Revill 2015).
Wenn wir beispielsweise die schlecht isolierten Ohrknöpfchen benutzen, die
wir in der Regel mit unseren digitalen Geräten mitgeliefert bekommen, sind
es die anderen, die den Exzess an Klangenergie hören, der aus unseren Ge-
hörgängen in die gemeinsame Klang-Umwelt durchsickert. Zur Illustration
dieses Beziehungsaspekts von Klang verfolgt Heike Weber (2010: 346) die öf-
fentliche Geschichte des Hörens mit Kopfhörern von der stationären Nutzung
zur mobilen, zeichnet den Diskurs des »respektvollen Hörens« nach, der das
einohrige Hören mit einem Kopfhörerknopf umgab; respektvoll, weil es sich
nur auf das Ohr des Individuums bezog, aber auch, weil es das andere Ohr der
nicht-mediatisierten Welt überließ. Tragbare Stereo-Kopfhörer »privatisierten«
diese Erfahrung dann, indem sie sie in den intimen Raum des Ohres (Weber
spricht von »Kokon«) verbrachten, während der geheime sinnliche Zugang,
dessen sich der Kopfhörernutzer erfreute, demonstrativ öffentlich sichtbar war
(Hosokawa 2012). Wie diese Studien zeigen, lässt uns Klang auf verschiedene
Weisen Teil einer sozialen Situation sein, von denen uns nicht alle bewusst
werden. Je mehr Zeit wir im Zustand der Audio-Nutzung verbringen, desto
weniger stehen wir diesen anderen Situationen zur Verfügung, auch nicht den
Algorithmuskulturen
Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit
- Title
- Algorithmuskulturen
- Subtitle
- Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit
- Author
- Robert Seyfert
- Editor
- Jonathan Roberge
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-3800-8
- Size
- 14.8 x 22.5 cm
- Pages
- 242
- Keywords
- Digitale Kulturen, Medienwissenschaft Kultur, Media studies, Technik, Techniksoziologie, Kultursoziologie, Neue technologien, sociology of technology, new technologies, Algorithmus
- Category
- Technik