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ALJ 1/2015 Beate Sündhofer 91
Im Verbot des Tragens bestimmter religiöser Kleidung an öffentlichen Orten erkannte der Ge-
richtshof hingegen eine Verletzung.22 In seiner Begründung verwies der EGMR dabei darauf, dass
jene Prinzipien, die einen Eingriff in die Religionsausübungsfreiheit in einer staatlichen (Bildungs-)
Einrichtung wie einer Universität rechtfertigen, im Fall des Verbots an öffentlichen Orten gerade
nicht anwendbar seien.23
III. Das Konzept des „margin of appreciation“
A. Begründungsansätze für den „margin of appreciation“ in der bisherigen
Rechtsprechung
Im Fall S.A.S. geht es um ein allgemeines Verbot, das Gesicht an öffentlichen Orten zu bedecken.
Der neutrale Wortlaut des Gesetzes ist ohne religiösen Bezug und betrifft jedes Kleidungsstück.
Dies stellt einerseits einen Unterschied zum Fall Ahmet Arslan ua dar, in dem ausdrücklich das
Tragen religiöser Kleidung untersagt wurde.24 Andererseits erstreckt sich in Abgrenzung zu den
Fällen des Kopftuchverbots das Verbot in Frankreich nicht auf eine spezielle staatliche Einrich-
tung wie Schule oder Universität, sondern auf alle öffentlichen Orte.25 Im Ergebnis stellt der
EGMR im Urteil S.A.S. fest, dass das allgemeine Verbot der Gesichtsbedeckung an öffentlichen
Orten Art 8 bzw Art 9 EMRK nicht verletze. Er gesteht Frankreich diesbezüglich einen weiten Er-
messensspielraum („margin of appreciation“) zu und beschränkt seine eigene Kontrolle auf die
Prüfung, ob die staatliche Maßnahme offensichtlich ungerechtfertigt ist („justified in principle“).26
In der bisherigen Rechtsprechung des EGMR lassen sich unterschiedliche Begründungsansätze
erkennen, aufgrund derer der Gerichtshof den Staaten einen weiten bzw engen Ermessensspiel-
raum zugesteht.27 Ein Argument für einen weiten Spielraum ist, dass die nationalen Behörden in
bestimmten Fällen besser geeignet seien, um auf die Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung einge-
hen zu können. Für den EGMR trifft dies etwa in Angelegenheiten von allgemeinpolitischer Be-
deutung28 bzw bei allgemeinen Maßnahmen von ökonomischer und sozialer Bedeutung29 zu. Er
betont dabei die subsidiäre Rolle des Konventionsmechanismus.30 Als anderes Argument dient
dem Gerichtshof die Rücksichtnahme auf einen einheitlichen europäischen Konsens zu einem
bestimmten Thema. Gibt es einschlägige übereinstimmende Regelungen bzw einen dahingehen-
22 EGMR 23. 2. 2010, 41135/98, Ahmet Arslan ua Rn 44 ff.
23 EGMR 23. 2. 2010, 41135/98, Ahmet Arslan ua Rn 49, unter Verweis auf EGMR 10. 11. 2005 (GK), 44774/98, Leyla Şahin
Rn 109 (Prinzip des Laizismus).
24 Der EGMR selbst nennt als wesentlichen Unterschied den das ganze Gesicht (mit möglicher Ausnahme der Augen)
verdeckenden islamischen Schleier; EGMR 1. 7. 2014 (GK), 43835/11, S.A.S./Frankreich Rn 136.
25 Vgl dazu schon die Abgrenzung zum Fall Leyla Şahin in EGMR 23. 2. 2010, 41135/98, Ahmet Arslan ua Rn 49.
26 EGMR 1. 7. 2014 (GK), 43835/11, S.A.S./Frankreich Rn 129 ff, 154 ff.
27 Vgl dazu Marauhn/Merhof in Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg), EMRK/GG I2 Kap 7 Rn 58 f; Grabenwartter/Pabel, EMRK5 § 18
Rn 21; Pellonpää, Kontrolldichte des Grund- und Menschenrechtsschutzes in mehrpoligen Rechts-verhältnissen,
EuGRZ 2006, 483 (483 ff); de la Rasilla del Moral, The Increasingly Marginal Appreciation of the Margin-of-
Appreciation Doctrine, GLJ 2006, 611 (611 ff); Wildhaber, The Role of Comparative Law in the Case-Law of the Eu-
ropean Court of Human Rights, in FS Ress (2005) 1101 (1101 ff); Hutchinson, The Margin of Appreciation Doctrine
in the European Court of Human Rights, ICLQ 1999, 638 (638 ff); Brems, The Margin of Appreciation Doctrine in
the Case-Law of the European Court of Human Rights, ZaöRV 1996, 240 (240 ff).
28 So etwa EGMR 18. 1. 2011, 39401/04, MGN Limited Rn 200; EGMR 23. 11. 2010, 60041/08 ua, Greens u M.T. Rn 113;
EGMR 6. 11. 2005 (GK), 11810/03, Maurice Rn 117; EGMR 8. 7. 2003, 36022/97, Hatton ua Rn 97.
29 EGMR 15. 3. 2012, 25951/07, Gas u Dubois Rn 60; EGMR 24. 6. 2010, 30141/04, Schalk u Kopf Rn 97; EGMR 12. 4. 2006
(GK), 65731/01, Stec ua Rn 52.
30 EGMR 10. 11. 2005 (GK), 44774/98, Leyla Şahin Rn 109; EGMR 6. 11. 2005 (GK), 11810/03, Maurice Rn 117; vgl dazu
Schäffer, Die Grundrechte im Spannungsverhältnis von nationaler und europäischer Perspektive, ZÖR 2007, 1 (29).
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Austrian Law Journal
Volume 1/2015
- Title
- Austrian Law Journal
- Volume
- 1/2015
- Author
- Karl-Franzens-Universität Graz
- Editor
- Brigitta Lurger
- Elisabeth Staudegger
- Stefan Storr
- Location
- Graz
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- Size
- 19.1 x 27.5 cm
- Pages
- 188
- Keywords
- Recht, Gesetz, Rechtswissenschaft, Jurisprudenz
- Categories
- Zeitschriften Austrian Law Journal