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ALJ 1/2015 Konventionskonformität des Gesichtsbedeckungsverbots 94
auch aus einfach- bzw verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten in den Mitgliedstaaten
ergeben.48 Wie in der „dissenting opinion“ zum Ausdruck gebracht wurde, ist unklar, inwiefern
das Zusammenleben der Menschen ein von der Konvention geschütztes Recht (anderer) darstellt.
Weder das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art 8 EMRK) noch das Diskriminie-
rungsverbot des Art 14 EMRK erfassen in ihrem Schutzbereich eindeutig den Schutz des Zusam-
menlebens. Wird das Zusammenleben nämlich dadurch geschützt, dass das Gesicht nicht ver-
deckt sein darf, um Interaktion bzw Kommunikation zu ermöglichen, bedeutet dies im Umkehr-
schluss, dass im Zusammenleben Interaktion möglich sein muss. Aus der Konvention ist allerdings
keine Pflicht abzuleiten, mit anderen Menschen interagieren bzw kommunizieren zu müssen.49
Ferner wird weder begründet noch lässt es sich erschließen, aufgrund welcher einfach- bzw ver-
fassungsgesetzlichen Regelung sich eine derartige Verpflichtung ergeben würde.50 Insofern ist es
dem EGMR nicht gelungen, überzeugend darzulegen, welche Rechte Personen mit unbedecktem
Gesicht beim Zusammentreffen mit Personen mit bedecktem Gesicht schützen sollen.51
Abgesehen von diesen wenig überzeugenden Ausführungen im Hinblick auf das Vorliegen eines
legitimen Ziels stellt sich Frage, weshalb sie der EGMR überhaupt einer so eingehenden Prüfung
unterzogen hat. Der Gerichtshof selbst bezeichnet seine bisherige Praxis diesbezüglich als eher
knapp („succinct“).52 Dass der EGMR ausführlich und kritisch auf die von der Regierung hinsicht-
lich des Vorliegens eines legitimen Ziels vorgebrachten Argumente wie etwa der Gleichberechti-
gung der Geschlechter oder der Achtung der Menschenwürde eingeht, erweckt den Anschein, als
wolle er die „öffentliche Bühne“ des Urteils nutzen, um auch gesellschaftspolitisch Stellung neh-
men zu können.53
Eingehend setzt sich der Gerichtshof allerdings nicht nur mit dem Vorliegen eines legitimen Ziels,
sondern in weiterer Folge auch mit der Notwendigkeit und der Verhältnismäßigkeit des Verbots
der Gesichtsbedeckung auseinander. Am Ende der Prüfung, ob ein legitimes Ziel vorliegt, betont
er doch zunächst noch, dass aufgrund der Flexibilität des Begriffes des Zusammenlebens und
des Risikos eines exzessiven Gebrauchs eine eingehende Verhältnismäßigkeitsprüfung vonnöten
ist.54 Dabei wägt er die von der Regierung bzw der Bf und den Drittbeteiligten vorgebrachten
Argumente ab.55 Während zunächst alles auf die Feststellung einer Verletzung hindeutet, nimmt
der EGMR seine Kontrolldichte in letzter Konsequenz wegen des weiten Ermessensspielraumes, der
in diesem Fall zuzugestehen sei, allerdings wieder zurück.56 Der EGMR widerspricht sich somit im
Zuge seiner Argumentation nicht bloß selbst, er ist auch im Hinblick auf die Umsetzung des Kon-
zepts des „margin of appreciation“ inkonsequent.
48 Vgl dazu Schiedermair in Pabel/Schmahl (Hrsg), IntKomm EMRK (15. Lfg 2013) Art 10 Rn 49; von Ungern-Sternberg in
Karpenstein/Mayer (Hrsg), EMRK1 (2012) Art 9 Rn 37; Grabenwarter in Pabel/Schmahl (Hrsg), IntKomm EMRK (8. Lfg
2007) Art 9 Rn 86.
49 EGMR 1. 7. 2014 (GK), 43835/11, S.A.S./Frankreich, separate opinion, Rn 6 ff; vgl dazu Grabenwarter/Pabel, EMRK5 § 22
Rn 13 mwN; Finke, Warum das „Burka-Verbot“ gegen die EMRK verstößt, NVwZ 2010, 1127 (1131).
50 Siehe dazu ausführlich Grabenwarter/Struth, Das französische Verbot der Vollverschleierung, EuGRZ 2015, 1 (2 ff).
51 So auch Aziz, Kein Recht, Außenseiter_in zu sein, Juridikum 2014, 269 (273).
52 EGMR 1. 7. 2014 (GK), 43835/11, S.A.S./Frankreich Rn 114 mit Verweis auf EGMR 10. 11. 2005 (GK), 44774/98, Ley-
la Şahin Rn 99 und EGMR 23. 2. 2010, 41135/98, Ahmet Arslan ua Rn 43.
53 EGMR 1. 7. 2014 (GK), 43835/11, S.A.S./Frankreich Rn 118 ff.
54 EGMR 1. 7. 2014 (GK), 43835/11, S.A.S./Frankreich Rn 122.
55 EGMR 1. 7. 2014 (GK), 43835/11, S.A.S./Frankreich Rn 137 ff.
56 EGMR 1. 7. 2014 (GK), 43835/11, S.A.S./Frankreich Rn 155 ff.
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Austrian Law Journal
Volume 1/2015
- Title
- Austrian Law Journal
- Volume
- 1/2015
- Author
- Karl-Franzens-Universität Graz
- Editor
- Brigitta Lurger
- Elisabeth Staudegger
- Stefan Storr
- Location
- Graz
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- Size
- 19.1 x 27.5 cm
- Pages
- 188
- Keywords
- Recht, Gesetz, Rechtswissenschaft, Jurisprudenz
- Categories
- Zeitschriften Austrian Law Journal