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ALJ 1/2016 Waldemar Hummer 4
AEUV vorgesehenen Möglichkeit, dass der Rat im Falle der Notlage einiger Mitgliedstaaten aufgrund
eines plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen vorläufige Maßnahmen zugunsten dieser
Mitgliedstaaten erlassen kann, wurde zwar zugunsten von Italien und Griechenland Gebrauch
gemacht, ohne dass dies aber in der Folge zu einer nennenswerten Entlastung geführt hätte.9
Eine Reihe von Mitgliedstaaten der EU sahen sich daher genötigt, ihre Schengen-Binnengrenzen
wieder zu kontrollieren bzw sogar Zäune zur Abhaltung der Flüchtlings- und Migrantenströme zu
errichten. Österreich limitierte ergänzend dazu seine Aufnahmekapazität für Asylwerber mit
einer „Obergrenze“ bzw einem „Richtwert“ bis zum Jahr 2019 von maximal 127.000 Personen
(2016: 37.500, 2017: 35.000, 2018: 30.000 und 2019: 25.000)10 und löste damit auf der Westbal-
kanroute einen „Dominoeffekt“ aus, der aktuell vor allem an der mazedonisch-griechischen
Grenze zu einem enormen Rückstau an Flüchtlingen führt, die sich im griechischen Grenzort
Idomeni unter menschenunwürdigen Bedingungen aufhalten.
Da Griechenland offensichtlich nicht in der Lage ist, seine seewärtige Schengen-Außengrenze11 –
vor allem gegenüber Flüchtlingen und Migranten, die vom türkischen Festland aus auf nahegele-
gene griechische Inseln übersetzen – zu überwachen,12 kommt der Türkei eine Schlüsselfunktion
bei der Sicherung dieser sensiblen Schengen-Außengrenze zu. Dementsprechend wurde auch am
15. 10. 2015 der „Gemeinsame Aktionsplan EU-Türkei“ (Joint Action Plan) „ad referenda“ beschlos-
sen.13 Parallel dazu legte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel einen eigenen „Merkel-
Plan“14 vor, um im Falle eines Scheiterns der gemeinsamen Anstrengungen mit der Türkei ein
eigenes deutsch-türkisches Abkommen zu schließen. Obwohl die Türkei seit 1999 Beitrittskandi-
dat ist und die EU mit ihr die Beitrittsverhandlungen bereits 2005 eröffnet hat, verlangt sie für
eine stärkere Grenzüberwachung und die Rücknahme von illegal nach Griechenland eingereisten
Syrern von der EU eine Reihe politischer und wirtschaftlicher Zugeständnisse, wie zB Visafreiheit
für türkische Staatsangehörige, eine Beschleunigung des stagnierenden Beitrittsverfahrens durch
die Eröffnung weiterer Verhandlungskapitel, hohe finanzielle Zuschüsse für die Versorgung der
syrischen Flüchtlinge in der Türkei uvm. Die im Europäischen Rat vereinigten Staats- und Regie-
rungschefs schlossen am 18. 3. 2016 mit der Türkei eine entsprechende Übereinkunft,15 in der sie
diesen Wünschen der Türkei großteils entsprachen. Da sich Griechenland aber kurz darauf wei-
gerte, eine der wichtigsten Vorbedingungen für eine ordnungsgemäße Durchführung des Über-
einkommens – nämlich die Anerkennung der Türkei als „sicheres Drittland“ gesetzlich zu veran-
kern16 – zu erfüllen, scheint dieser Versuch, über die Einbindung der Türkei, den „Schengen-
Dublin“-Raum wieder funktionsfähig zu machen, von einem vorzeitigen Scheitern bedroht. Aber
selbst wenn die EU/Türkei-Übereinkunft bestimmungsgemäß umgesetzt werden würde, läuft sie
nach einer Überstellung von maximal 72.000 Syrern von Griechenland nach der Türkei definitiv
aus, sodass sie nur als „Tropfen auf einen heißen Stein“, nicht aber als endgültige Gesamtlösung
angesehen werden kann.
9 Vgl dazu nachstehend 10 ff.
10 Vgl dazu nachstehend 19 f und Fn 98.
11 Griechenland verfügt über 2.000 Inseln und hat mit 13.676 km eine der längsten Küstenlinien der Welt.
12 Vgl dazu den Evaluierungsbericht der Kommission über Griechenland in Fn 31.
13 Vgl dazu COM(2016) 144 final vom 4. 3. 2016; MEMO 15/5860 vom 15. 10. 2015.
14 Vgl European Stability Initiative (ESI), The Merkel Plan. Restoring control; retaining compassion – A proposal for
the Syrian refugee crisis, 4 October 2015.
15 Vgl dazu COM(2016) 166 final vom 16. 3. 2016; Europäischer Rat, Erklärung EU-Türkei, 18. 3. 2016; abrufbar
unter: http:www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2016/03/18-eu-turkey-statement (26. 4. 2016).
16 Bernath, Türkei doch nicht „sicherer Drittstaat“, Der Standard vom 25. 3. 2016, 8.
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Austrian Law Journal
Volume 1/2016
- Title
- Austrian Law Journal
- Volume
- 1/2016
- Author
- Karl-Franzens-Universität Graz
- Editor
- Brigitta Lurger
- Elisabeth Staudegger
- Stefan Storr
- Location
- Graz
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- Size
- 19.1 x 27.5 cm
- Pages
- 110
- Keywords
- Recht, Gesetz, Rechtswissenschaft, Jurisprudenz
- Categories
- Zeitschriften Austrian Law Journal