Page - 19 - in Austrian Law Journal, Volume 1/2016
Image of the Page - 19 -
Text of the Page - 19 -
ALJ 1/2016 Erlebt Schengen eine „Renaissance“ oder geht es unter? 19
XIII. Schlussbetrachtungen
Im Jahr 2015 bereisten mehr als 50 Mio Drittstaatsangehörige die EU, was zu mehr als 200 Mio
Grenzübertritten an den Außengrenzen des „Schengen“-Raums Anlass gab. Neben diesem regu-
lären Grenzverkehr kam es 2015 aber auch zu 1,8 Mio irregulären Grenzübertritten an den
Schengen-Außengrenzen.93 Die Erfassung und Registrierung dieser Grenzübertritte stellt die EU
vor kaum mehr zu bewältigende technische Probleme.
Im Zuge des Erlasses der vorerwähnten VO zur Einführung eines Evaluierungs- und Überwa-
chungsmechanismus94 hatte der Rat im ersten Erwägungsgrund derselben unmissverständlich
festgestellt: „Der Schengen-Raum ohne Kontrollen an den Binnengrenzen setzt die wirksame und
effiziente Anwendung von Begleitmaßnahmen durch die Mitgliedstaaten in den Bereichen Außen-
grenzen, Visumpolitik, Schengener Informationssystem, Datenschutz, polizeiliche Zusammenarbeit,
justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen und Drogenbekämpfung voraus.“ Mit anderen Worten
heißt das: das „Schengen“-System kann nur dann funktionieren, wenn die Mitgliedstaaten ihre ent-
sprechenden „Hausaufgaben“ in den angegebenen Bereichen gemacht haben, ohne die den unions-
rechtlichen Maßnahmen die mitgliedstaatliche Fundierung und Umsetzung fehlen würde. Noch viel
ärger als ein gänzliches Unterbleiben der Setzung der notwendigen Begleitmaßnahmen durch die
einzelnen Mitgliedstaaten wirkt sich aber politisch eine unkoordinierte bzw sogar divergierende
Vorgangsweise derselben aus, da sie belegt, dass die einzelnen Mitgliedstaaten in der Wahl ihrer
Mittel zur Erreichung der gemeinsamen Zielsetzung diametral positioniert sind. Genau dieser Um-
stand liegt aber im Zuge der gegenwärtigen Bewältigung der Flüchtlingskrise vor.
Betrachtet man die gegenwärtige Situation der „Implosion“ des „Schengen- und Dublin“-Raumes
im Gefolge der zur Abwendung der Flüchtlingskrise von den Mitgliedstaaten individuell ergriffenen
Maßnahmen, dann erkennt man, wie unterschiedlich die einzelnen EU-Mitgliedstaaten auf diese
Herausforderung reagiert haben. Auf der einen Seite steht die Bundesrepublik Deutschland,
deren Kanzlerin mit ihrer „Willkommenskultur“ expressis verbis betont hat, „wir schaffen das“,
und auf der anderen Seite befinden sich die „Visegrad-Staaten“, die jedwede weitere Aufnahme
von Flüchtlingen kompromisslos ablehnen. Am weitesten geht diesbezüglich Ungarn, da Minister-
präsident Orbán in der zweiten Jahreshälfte 2016 ein Referendum über die Quotenverteilung von
Flüchtlingen in der EU abhalten lassen will, um damit Ungarn endgültig aus dem europäischen
Verteilungsmechanismus95 auszunehmen.96 Österreich wiederum hat im Gefolge des Asylgipfels
vom 20. 1. 201697 eine „Obergrenzen“- bzw „Richtwert“-Regelung dahingehend eingeführt, dass
im laufenden Jahr 2016 nur mehr 37.500 Personen für das Stellen von Asylanträgen akzeptiert
werden.98 Nachdem die Anliegerstaaten an der Westbalkanroute im Gefolge dieser österreichi-
schen „Obergrenzen“- bzw „Richtwerte“-Regelung ihre Grenzen Zug um Zug geschlossen haben,
93 Europäische Kommission, Pressemitteilung IP/16/1248.
94 Vgl oben Fn 29.
95 Siehe dazu vorstehend auf 11 f.
96 Orbáns Plan: Schengen 2.0, Die Presse vom 19. 4. 2016, 6.
97 Asylgipfel am 20. Jänner 2016, Gemeinsame Vorgangsweise von Bund, Ländern, Städten und Gemeinden, 2;
vgl I. Bonavida, 37.500, Die Presse vom 21. 1. 2016, 1.
98 Das Setzen einer numerischen, fixen Obergrenze, die auch im österreichischen Asylgesetz 2005 (AsylG 2005),
BGBl I 2005/100, verankert werden soll (vgl dazu Filzwieser/Frank/Kloibmüller/Raschhofer, Asyl- und Fremdenrecht.
Kommentar [2016], 437 ff), ist unzulässig. Dies wurde auch im Gutachten „Völker-, unions- und verfassungsrecht-
liche Rahmenbedingungen für den beim Asylgipfel am 20. 1. 2016 in Aussicht genommenen Richtwert für Flücht-
linge“, von Walter Obwexer und Bernd-Christian Funk (Seite 84) festgestellt, das im Auftrag der österreichischen
Bundesregierung erstellt und am 30. 3. 2016 der Öffentlichkeit vorgestellt wurde.
back to the
book Austrian Law Journal, Volume 1/2016"
Austrian Law Journal
Volume 1/2016
- Title
- Austrian Law Journal
- Volume
- 1/2016
- Author
- Karl-Franzens-Universität Graz
- Editor
- Brigitta Lurger
- Elisabeth Staudegger
- Stefan Storr
- Location
- Graz
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- Size
- 19.1 x 27.5 cm
- Pages
- 110
- Keywords
- Recht, Gesetz, Rechtswissenschaft, Jurisprudenz
- Categories
- Zeitschriften Austrian Law Journal