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ALJ 1/2016 Waldemar Hummer 20
kam es im März 2016 an der griechisch-mazedonischen Grenze in Idomeni zu einem dramati-
schen RĂĽckstau von 13.000 FlĂĽchtlingen und Migranten, die die Westbalkanroute nicht mehr
benutzen konnten. Der Aufbau eines funktionierenden Grenzmanagements an der griechisch-
mazedonischen Grenze wurde dabei ua auch durch einen bereits seit längerer Zeit schwelenden
Namens- und Territorialkonflikt zwischen diesen beiden Nachbarstaaten99 am Balkan behindert.
Es wird in diesem Zusammenhang auch vom Ausgang der Parlamentswahlen am 5. 6. 2016 in
Mazedonien abhängen, ob danach mit Griechenland in einer von der Bevölkerung umfassend
konsentierten Weise in der Frage des Namensstreits um die Bezeichnung „FYROM“ verhandelt
werden kann oder nicht. Da der Chef der Sozialdemokratischen Partei SDSM, Zoran Zaev, aber
bereits angekĂĽndigt hat, die Wahlen zu boykottieren,100 stehen die Chancen dafĂĽr nicht beson-
ders gut.
Wenn aber nun alle Anrainerstaaten der Westbalkanroute, sowie einige weitere Mitgliedstaaten,
an ihren Binnengrenzen wieder Grenzkontrollen eingefĂĽhrt haben, dann stellt sich die Frage, ob
die damit an sich verursachte Drohung des Scheiterns des „Schengen-Dublin“-Systems überhaupt
noch abgewendet werden kann, oder nicht. Bevor diese grundlegende Fragestellung aber beant-
wortet werden kann, war zunächst der Frage nachzugehen, ob die bisherige Anordnung der Kon-
trollen an den Binnengrenzen durch eine Reihe von Mitgliedstaaten ĂĽberhaupt rechtskonform
erfolgte oder nicht. Diesbezüglich ist die europäische Öffentlichkeit überraschender Weise über-
haupt nicht aufgeklärt worden.
Auf der Basis des Schengener Grenzkodex bestehen mehrere unterschiedliche Möglichkeiten
fĂĽr einen Schengen-Staat, im Falle einer schwerwiegenden Bedrohung der inneren Sicherheit
oder öffentlichen Ordnung, vorübergehend an den Binnengrenzen unilateral wieder Grenzkon-
trollen einzufĂĽhren. Interessanterweise haben aber in Ă–sterreich weder Bundeskanzler Werner
Faymann noch die zuständigen BM Johanna Mikl-Leitner und Sebastian Kurz in ihren Rechtferti-
gungsversuchen der seitens Österreich einseitig eingeführten bzw geplanten Grenzkontrollen –
zunächst im Burgenland in Niklasdorf, danach in Spielfeld und zuletzt am Brenner101 – auf diese
legalen Suspendierungsmöglichkeiten hingewiesen, sondern lediglich immer wieder die faktische
Notwendigkeit der EinfĂĽhrung derselben aufgrund des Massenzustroms von FlĂĽchtlingen und
Migranten betont.
Damit wurde in der Ă–ffentlichkeit aber der Eindruck erweckt, dass es sich dabei um eine zwar
notwendige, uU aber juristisch nicht gedeckte Vorgangsweise Ă–sterreichs handeln wĂĽrde. Warum
diese längst fällige Aufklärung der österreichischen Öffentlichkeit aber nach wie vor vorenthalten
wird, wurde offiziell nicht begründet, sodass darüber nur Vermutungen angestellt werden können.
Nicht nur aus GrĂĽnden der erforderlichen Transparenz, sondern vor allem auch, um der Ă–ffent-
lichkeit die Sinnhaftigkeit des „Regel-Ausnahme“–Systems des Schengener Grenzkodex näher zu
verdeutlichen, wäre eine entsprechende Bezugnahme auf die ermächtigenden Ausnahmebestim-
mungen im Schengener Grenzkodex und deren zeitliche Limitierung absolut notwendig gewesen.
Bedauerlicherweise ist diese bis jetzt aber unterblieben.
99 Siehe W. Hummer, Mazedonien: Ein Staat, zwei Namen, EU-Infothek vom 24. 3. 2016.
100 Vgl A. Wölfl, Mazedoniens Opposition für Wahlboykott, Der Standard vom 8. 4. 2016, 7.
101 Ende Mai 2016 soll das Grenzmanagement am Brenner, gesichert durch einen 250 Meter langen Zaun, in Betrieb
gehen; vgl Versuch einer Stabilisierung, Wiener Zeitung vom 19. 4. 2016, 3.
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Austrian Law Journal
Volume 1/2016
- Title
- Austrian Law Journal
- Volume
- 1/2016
- Author
- Karl-Franzens-Universität Graz
- Editor
- Brigitta Lurger
- Elisabeth Staudegger
- Stefan Storr
- Location
- Graz
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- Size
- 19.1 x 27.5 cm
- Pages
- 110
- Keywords
- Recht, Gesetz, Rechtswissenschaft, Jurisprudenz
- Categories
- Zeitschriften Austrian Law Journal