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ALJ 1/2016 Ermessen im starkstromwegerechtlichen Bau- und Betriebsbewilligungsverfahren 54
IV. Ermessen im starkstromwegerechtlichen Bewilligungsverfahren
Die Starkstromwegerechtsbehörde hat im anlagenrechtlichen Betriebs- und Bewilligungsver-
fahren in mehreren Schritten komplexe Abwägungen vorzunehmen, die ihr in gewissem Um-
fang auch tatbestandsbezogene Beurteilungsspielräume eröffnen. Das wirft die Frage auf,
inwieweit diese Beurteilungsspielräume dem Kontrollzugriff durch Verwaltungsgerichte unter-
liegen, dh von ihnen beanstandet und ggf korrigiert werden dürfen. Denn gegen den Bescheid
der Starkstromwegerechtsbehörde steht nach Art 130 Abs 1 Z 1 B-VG bereits verfassungsun-
mittelbar die Beschwerde beim zuständigen VwG erster Instanz offen.94 Prüfungsmaßstab im
Bescheidbeschwerdeverfahren vor dem VwG ist die Rechtmäßigkeit des beanstandeten Verwal-
tungshandelns in der Rechtssatzform des Bescheides.95 Nach Maßgabe des Art 130 Abs 3 B-VG
liegt aber Rechtswidrigkeit außerhalb des Verwaltungsstrafrechts und der Rechtssachen, die in
die Zuständigkeit des Bundesfinanzgerichts (BFG) fallen,96 nicht vor, wenn und soweit das Gesetz
der Behörde Ermessen einräumt und sie von diesem Ermessen im Sinne des Gesetzes Gebrauch
genommen hat.
Eine fehlerfreie Ermessensübung der Starkstromwegerechtsbehörde wäre also kraft verfas-
sungsgesetzlicher Festlegung vor verwaltungsgerichtlicher Beanstandung geschützt und dürfte
im Bescheidbeschwerdeverfahren selbst bei Vorliegen einer verfassungsrechtlichen Reforma-
tionspflicht nach Art 130 Abs 4 B-VG nicht durch eine anderslautende Ermessensübung des
VwG ersetzt werden.97 Eine explizite Ausnahme vom verfassungsrechtlichen Ermessensschutz
gemäß dem vorhin zitierten Einleitungshalbsatz des Art 130 Abs 3 B-VG liegt hinsichtlich des
starkstromwegerechtlichen Bau- und Betriebsbewilligungsverfahren eindeutig nicht vor.
94 Faber, Verwaltungsgerichtsbarkeit (2013) Art 130 B-VG Rz 2; Kolonovits/Muzak/Stöger, Grundriss des österreichi-
schen Verwaltungsverfahrensrechts10 (2014) Rz 673, 675.
95 Art 130 Abs 1 Z 1 B-VG (arg „wegen Rechtswidrigkeit“); Berka, Verfassungsrecht. Grundzüge des österreichischen
Verfassungsrechts für das juristische Studium5 (2014) Rz 908.
96 In den genannten Angelegenheiten kann das VwG stets sein eigenes Ermessen an die Ermessensübung der
Behörde setzen. Siehe dazu Berka, Verfassungsrecht5 Rz 930; Mayer/Kucsko-Stadlmayer/Stöger, Bundesverfas-
sungsrecht11 Rz 927/22.
97 ErläutRV 1618 BlgNR 24. GP 14; Pabel, Das Verfahren vor den Verwaltungsgerichten, in Fischer/Pabel/N. Raschauer
(Hrsg), Handbuch der Verwaltungsgerichtsbarkeit (2014) 379 (Rz 75 f); Faber, Verwaltungsgerichtsbarkeit Art 130
B-VG Rz 59 f; Mayer/Kucsko-Stadlmayer/Stöger, Bundesverfassungsrecht11 Rz 927/22; Berka, Verfassungsrecht5 Rz 930;
Öhlinger/Eberhard, Verfassungsrecht10 Rz 662. IdS aber jüngst auch VwGH 21. 4. 2015, Ra 2015/09/0009 (Hervor-
hebungen nicht im Original), im Rahmen einer außerordentlichen Revision gegen das Erkenntnis des Bundes-
verwaltungsgerichtes: „Die Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts trifft […] zu, dass das Verwaltungsgericht,
wenn es zur selben sachverhaltsmäßigen und rechtlichen Beurteilung kommt, vor dem Hintergrund des Art. 130
Abs. 3 B-VG nicht sein eigenes Ermessen an die Ermessensübung durch die [Behörde] setzen darf. Jedoch ist das Ver-
waltungsgericht bei seiner Entscheidung […] nicht von der Verpflichtung zur Beurteilung entbunden, ob die Er-
messensübung durch die [Behörde] auf gesetzmäßige Weise erfolgte. Weiters ist zu bedenken, dass das Verwal-
tungsgericht im Fall einer gesetzwidrigen Entscheidung der Verwaltungsbehörde im Fall des § 28 Abs. 2 VwGVG (Art. 130
Abs. 4 B-VG) in der Sache selbst zu entscheiden und dabei auch eine Ermessensentscheidung zu treffen hat.“ Ob
schon jede sonstige Rechtswidrigkeit des angefochtenen (Teil-)Bescheides eine eigenständige Ermessenshandha-
bung des VwG erster Instanz nach sich zieht (Mayer/Kucsko-Stadlmayer/Stöger, Bundesverfassungsrecht11 Rz 927/22
FN 44, auch mwN, ist allerdings zweifelhaft. Denn wenn der angefochtene (Teil-)Bescheid auf einer Entscheidung
beruht, die sich in trennbare Gedankenschritte zerlegen lässt, die ihrerseits getrennt vom Inhalt des restlichen
angefochtenen (Teil-)Bescheides beurteilt werden können, hat das VwG erster Instanz in Ansehen des Art 130
Abs 3 B-VG als Element materieller Gewaltenteilung jedenfalls noch keinen legitimen Grund, sein Ermessen bei
Trennbarkeit von Einzelaspekten einer behördlichen Entscheidung an die Stelle eines fehlerfrei geübten Ermes-
sens der Behörde zu setzen.
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Austrian Law Journal
Volume 1/2016
- Title
- Austrian Law Journal
- Volume
- 1/2016
- Author
- Karl-Franzens-Universität Graz
- Editor
- Brigitta Lurger
- Elisabeth Staudegger
- Stefan Storr
- Location
- Graz
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- Size
- 19.1 x 27.5 cm
- Pages
- 110
- Keywords
- Recht, Gesetz, Rechtswissenschaft, Jurisprudenz
- Categories
- Zeitschriften Austrian Law Journal