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ALJ 1/2016 Haftung und Compliance 86
IV. Rechtslage ohne CMS-Zertifizierung
A. ISO 19600 als Handelsbrauch?
Wie dargelegt, besteht im Allgemeinen58 keine generelle gesetzliche Verpflichtung zum Aufbau
einer CMS-Organisation. Vielmehr verfügen Geschäftsleiter über ein Organisationsermessen, das
eine andere, als nach ISO 19600 vorgegebene Überwachungsarchitektur erlaubt. Fraglich ist, ob
dennoch ein Druck zur Befolgung der ISO 19600 bestehen könnte, zumal Ö-Normen nach stRsp
auch ohne entsprechende gesetzliche oder vertragliche Verbindlicherklärung als Handelsbrauch
de facto Geltung erlangen können.59
Ein Handelsbrauch (bzw Unternehmensbrauch) ist eine unternehmerische Verkehrssitte. Er dient
gem § 346 UGB als Interpretationsmaxime, wonach Handlungen und Unterlassungen von Unter-
nehmern, im Hinblick auf die im Geschäftsverkehr geltenden Gewohnheiten und Gebräuche, auszu-
legen sind. Zudem wird ein Handelsbrauch als Vertragsergänzung bei mangelnder Regelung heran-
gezogen.60 Damit ein Handelsbrauch vorliegt, muss eine Verhaltensweise innerhalb eines be-
stimmten Geschäftskreises für eine gewisse Zeit freiwillig geübt werden. Das Tatbestandsmerkmal
der Übung erfordert eine entsprechende Verbreitung einer Verhaltensweise. Hiervon ist auszuge-
hen, wenn „ein ganz überwiegender Teil“ der Verkehrskreise die Verhaltensweise befolgt.61 Wird
etwa in einem Werkvertrag nichts bezüglich der technischen Eigenschaften eines Werks vereinbart,
so ist das Werk so zu erstellen, wie es üblich und angemessen ist; dabei sind die anerkannten Re-
geln des Fachs, einschließlich Ö-Normen, anzuwenden. Der Werkunternehmer ist seinem Vertrags-
partner gegenüber verpflichtet, ein Werk zu liefern, das der relevanten Ö-Norm entspricht.62
Auch einer ISO 19600-Zertifizierung liegt ein Vertrag mit der Zertifizierungsstelle zu Grunde. Bei
fehlender Vereinbarung könnte der ISO-Standard als Handelsbrauch der Auslegung des Zertifi-
zierungsvertrages dienen bzw vertragsergänzend wirken. Eine solche Entwicklung ist derzeit aber
nur wenig wahrscheinlich. Aktuell haben erst drei Unternehmen ein CMS-Zertifikat beantragt und
erlangt.63 Es ist daher von keiner Verhaltensweise auszugehen, die von einem überwiegenden
Teil der Verkehrskreise befolgt wird. Selbst bei Berücksichtigung des Umstandes, dass es sich bei
CMS-Standards um ein relativ junges Konzept handelt, ist nicht von einer künftigen Herausbil-
dung eines Handelsbrauches auszugehen. Zwar würde es genügen, dass nur Unternehmen einer
Branche oder eines Geschäftszweiges eine Verhaltensweise üben. So wäre es etwa denkbar, dass
andere Energiedienstleister dem Beispiel der KELAG folgen und sich ein (auch regionaler) Han-
delsbrauch für Energieunternehmen entwickelt. Dem stehen aber inhomogene Organisations-
strukturen von Unternehmen entgegen, zumal insb kleine Unternehmen uU gar kein derart um-
fassendes CMS, wie es von ISO 19600 vorgegeben wird, benötigen.64
58 Zu den Ausnahmen vgl oben unter Punkt 1.
59 RIS-Justiz RS0038622; RS0038609.
60 RIS-Justiz RS0102364; RS0062008.
61 Kramer/Rauter in Straube (Hrsg), Wiener Kommentar zum UGB, 31. Lgf (2011) § 346 Rz 10 mwN. Die WKÖ geht bei
Erhebungen von einem Handelsbrauch aus, wenn Dreiviertel der befragten Verkehrsteilnehmer die Verhaltens-
weise üben. Übersicht über Handelsbräuche https://www.wko.at/Content.Node/Interessenvertretung/Wirtschafts-
recht/Handelsbrauch-Liste.html (abgefragt am 25. 1. 2016).
62 OGH 22. 6. 2010, 10 Ob 24/09s; 17. 6. 1986, 4 Ob 356/86; Krejci, Unternehmensrecht4 (2008) 27.
63 KELAG-Kärntner Elektrizitäts-Aktiengesellschaft, Rosenbauer International AG, Magistrat der Stadt Wien, Magistrats-
abteilung 48, https://certificates.austrian-standards.at/FBCC_Faibusiness_Certification (abgefragt am 25. 1. 2016).
64 Auch eine branchenübergreifende Herausbildung eines Handelsbrauches nur für große Unternehmen – für die der
ISO-Standard zugeschnitten scheint – ist abzulehnen, da der Bereich/das Marktsegment, in dem ein Handels-
brauch gilt, objektiv abgrenzbar sein muss. Siehe Kramer/Rauter in Straube, WK § 346 Rz 14 mwN.
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Austrian Law Journal
Volume 1/2016
- Title
- Austrian Law Journal
- Volume
- 1/2016
- Author
- Karl-Franzens-Universität Graz
- Editor
- Brigitta Lurger
- Elisabeth Staudegger
- Stefan Storr
- Location
- Graz
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- Size
- 19.1 x 27.5 cm
- Pages
- 110
- Keywords
- Recht, Gesetz, Rechtswissenschaft, Jurisprudenz
- Categories
- Zeitschriften Austrian Law Journal