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ALJ 2018 Christian Hiebaum 59
technisches Wissen als an Weisheit und Tiefsinnigkeit denken lässt. Mit „Expertokratie“ dagegen
dürfte es sich ähnlich verhalten wie mit „Technokratie“. Gleichwohl macht man sich mit dem
Vorschlag, die Regierung hauptsächlich oder gar ausschließlich mit „Expertinnen und Experten“
zu besetzen, im Wahlvolk eher beliebt als unbeliebt – sodass er fast schon als populistisch gelten
kann. Und regelmäßig wird die Forderung laut, die Regierung möge arbeiten und nicht streiten,
oder sogar: weniger reden. Als wäre es nur eine Frage des Sachverstandes und des guten Willens,
soziale Probleme zu erkennen und zu lösen. Auch in der politischen Theorie werden wieder ver-
mehrt Zweifel an den Rationalitätspotenzialen zumindest real existierender demokratischer Sys-
teme geäußert.3
Während man also regelmäßig Stimmen für mehr Expertise in der Politik, ja, sogar für eine ge-
wisse „Entpolitisierung“ der Politik vernimmt,4 gibt es heute kaum jemanden, der explizit der
„Technokratie“ das Wort redet. Ob zu Recht oder zu Unrecht, man assoziiert damit hauptsächlich
ĂĽbertriebenen, ja naiven Steuerungsoptimismus, Planwirtschaft und eine Herrschaft, die zwar
rechtsförmig und rechtlich gebunden sein mag, aber mit individueller und kollektiver Freiheit
unvereinbar ist.5 Und während viele meinen, die gegenwärtigen politischen Systeme in Europa,
allen voran jenes der Europäischen Union, seien mehr technokratisch als demokratisch geprägt,
und das fĂĽr einen Mangel halten, beklagen die wenigsten, dass wissenschaftliche Expertisen allzu
großen Einfluss auf den Inhalt von Entscheidungen und Rechtstexten hätten. Es verhält sich eher
umgekehrt: Kritisiert wird der Einfluss von Partikularinteressen und Pseudo-Studien, die wie wis-
senschaftliche Arbeiten aussehen, im Grunde aber nur Dienstleistungen für mächtige Lobbys
sind. Dementsprechend ist viel von „fake news“, „alternative facts“ und bloßem „bullshit“6 die Rede.
So unterscheidet etwa Wren-Lewis im Zusammenhang mit der Austeritätspolitik in der EU im All-
gemeinen und im Vereinigten Königreich im Besonderen zwischen „textbook macro“ (Lehrbuch-
Makroökonomik) und „media macro“ (das, was im öffentlichen Diskurs als makroökonomische
Einsicht oder zumindest wissenschaftlich fundierte und also akzeptable Auffassung gilt).7 Bedau-
erlicherweise hätten auch auf Seriosität und Neutralität verpflichtete Medien wie die BBC Anteil
an der Desinformation der Öffentlichkeit, weil sie in ihrer Berichterstattung regelmäßig die Tatsache
unterschlagen würden, dass in der Fachwelt ein überwältigender Konsens gegen die Austeritäts-
politik bestehe. Ähnlich konstatiert Rodrik eine auffällige Diskrepanz zwischen den öffentlichen,
bisweilen markt- und freihandelsfetischistisch anmutenden Verlautbarungen mancher seiner
Ă–konomen-Kollegen und dem, was man in der Disziplin weiĂź ĂĽber die keineswegs anspruchslo-
sen Voraussetzungen für das Funktionieren und über die Grenzen der Leistungsfähigkeit von
Märkten.8
3 Siehe etwa Brennan, Against Democracy (2016); Achen/Bartels, Democracy for Realists: Why Elections Do Not
Produce Responsive Governments (2016).
4 Siehe Blinder, Is Government Too Political? Foreign Affairs (1997) 115; Pettit, Depoliticizing Democracy, Associa-
tions (2003) 23.
5 Habermas (Faktizität und Geltung: Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats
[1992]) würde ergänzen, dass es ohne Demokratie auch keine Rechtsstaatlichkeit im vollen Sinne geben könne.
6 Im Sinne von Geschwafel, in dem sich eine völlige Indifferenz gegenüber Wahrheit ausdrückt. Siehe Frankfurt, On
Bullshit (2005).
7 Wren-Lewis, What Brexit and austerity tell us about economics, policy and the media, SPERI Paper No. 36 (2016),
http://speri.dept.shef.ac.uk/wp-content/uploads/2016/12/SPERI-Paper-36-What-Brexit-and-austerity-tell-us-
about-economics-policy-and-the-media.pdf (zuletzt abgefragt am 13. 6. 2018); Wren-Lewis, Mediamacro myths:
summing up (2015), http://mainlymacro.blogspot.co.at/2015/04/mediamacro-myths-summing-up.html (zuletzt
abgefragt am 13. 6. 2018).
8 Rodrik, Economics Rules: The Rights and Wrongs of a Dismal Science (2015) 93–96.
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Austrian Law Journal
Volume 1/2018
- Title
- Austrian Law Journal
- Volume
- 1/2018
- Author
- Karl-Franzens-Universität Graz
- Editor
- Brigitta Lurger
- Elisabeth Staudegger
- Stefan Storr
- Location
- Graz
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- Size
- 19.1 x 27.5 cm
- Pages
- 68
- Keywords
- Recht, Gesetz, Rechtswissenschaft, Jurisprudenz
- Categories
- Zeitschriften Austrian Law Journal