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ALJ 2018 Christian Hiebaum 63
rung und Föderalisierung verträgt. Aber Kreuzungen und Überschneidungen hierarchischer
Strukturen ohne klare Kollisionsnormen sind ein Problem, weil sie zu Verhandlungen und Abwä-
gungen zwingen, die mit Unsicherheiten einhergehen, welche sich nicht mittels bloĂźer Expertise
beseitigen lassen, sondern irgendeine Art von Politik erfordern.
Die Posttechnokratie ist hierarchieavers, sie bevorzugt heterarchische oder gar anarchisch-
strukturierte „governance“. Es geht um das Regieren/Regulieren/Normieren selbst. Dementspre-
chend populär sind Public Private Partnerships bei der Bereitstellung öffentlicher Güter, die vor-
mals in die alleinige Zuständigkeit des Staates fiel und bisweilen auch technokratisch organisiert
war.18 Der Hauptfokus liegt also auf Prozessen, nicht auf der Allokation von Autorität. Für das
Innere von Organisationen wird neben „gesundem Wettbewerb“ vor allem „Teamarbeit“ propa-
giert, nach außen soll „Kundenfreundlichkeit“ praktiziert werden, und als Kunden gelten potenzi-
ell alle Dritte. Beziehungen, für die ein Autoritätsgefälle wesentlich ist, die also im Grunde oder zu
einem guten Teil hierarchische Beziehungen sind (etwa zwischen Schule und SchĂĽlerinnen, Uni-
versität und Studierenden oder Behörde und Bürgerin), werden an Vertragsbeziehungen zwi-
schen gleichrangigen Privaten assimiliert.
3. Partizipation
Technokratie ist naturgemäß partizipationsavers, sie setzt auf die epistemische und in weiterer
Folge auch rechtliche Autorität von Expertinnen und Experten. Das heißt, mit ersterer wird letztere
begrĂĽndet. Die Posttechnokratie hingegen ist durchaus partizipationsaffin, wenn auch eher nomi-
nell als real. Sie setzt zwar ebenfalls auf Expertise, rechnet aber nicht mehr damit, dass sich diese
bei einer bestimmten Person oder einer kleinen Gruppe von Personen vorfinden lässt. Vielmehr
wird sie in Prozessen oder Verfahren selbst verortet. Deshalb sollen die sogenannten „stakeholders“
und Mitglieder der relevanten „epistemic communities“ an Entscheidungen und Regulierungen
teilhaben. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von „funktionaler Repräsentation“. Diese
Gruppen werden jedoch eher als Netzwerke denn als politische Gemeinschaften verstanden.19
Und auch sie haben oft nur Konsultationsrechte oder können „feedback“ zu Entscheidungen ge-
ben. Die Entscheidungen selbst werden oft ohne weitere Mitbestimmung getroffen oder als Ver-
träge zwischen Repräsentanten der „stakeholders“, etwa als Ziel- und Leistungsvereinbarungen,
verbindlich. Wir haben somit tendenziell „responsibility“ ohne nennenswerte „responsiveness“20
oder eine lediglich durch die Notwendigkeit eines Vertragsschlusses bedingte „responsiveness“.
Die für die liberale Demokratie konstitutive Spannung zwischen Identität und Differenz der Sub-
18 Die Einbindung Privater in die ErfĂĽllung staatlicher Aufgaben hat eine lange Tradition, jedoch erfolgt sie seit
einiger Zeit verstärkt, und auch die Formen haben sich verändert. Siehe dazu Fuchs et al (Hrsg), Staatliche Aufga-
ben, private Akteure I: Erscheinungsformen und Effekte (2015). Private wirken heute mit bei der Gesetzge-
bung/Regelsetzung, in der Rechtsprechung, bei der Marktaufsicht und Marktregulierung, bei der Bereitstellung
von Infrastruktur, bei der Gewährleistung öffentlicher Sicherheit, bei der Informationsbeschaffung, und bei der
Bewertung und Zertifizierung von GĂĽtern und Dienstleistungen.
19 Siehe (bezogen auf den Kontext transnationaler Politik) Hiebaum, Die Reichweite sozialer Gerechtigkeit, Politi-
sches Denken Jahrbuch (2011) 77 (89 ff). Was hier „Posttechnokratie“ genannt wird, weist große Ähnlichkeit zu
etwas auf, das Cohen und Sabel ebenfalls von Technokratie unterscheiden und als „deliberative Polyarchie“ be-
zeichnen, ein System, in dem „principal-agent accountability gives way to peer review, in which decisionmakers learn
from and correct each other even as they set goals and establish provisional rules for the organization“ (Cohen/Sabel,
Global Democracy? New York University Journal of International Law and Politics [2006] 763 [778]).
20 Siehe Streeck, How Will Capitalism End? (2016) Chapter 2; Mair, Representative versus Responsible Government,
MPIfG Working Paper 09/8 (2009), http://www.mpifg.de/pu/workpap/wp09-8.pdf (zuletzt abgefragt am 13. 6.
2018).
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Austrian Law Journal
Volume 1/2018
- Title
- Austrian Law Journal
- Volume
- 1/2018
- Author
- Karl-Franzens-Universität Graz
- Editor
- Brigitta Lurger
- Elisabeth Staudegger
- Stefan Storr
- Location
- Graz
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- Size
- 19.1 x 27.5 cm
- Pages
- 68
- Keywords
- Recht, Gesetz, Rechtswissenschaft, Jurisprudenz
- Categories
- Zeitschriften Austrian Law Journal