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ALJ 2019 Die Aussetzung (§ 334 StPO) 77
hinderung fehlerhafter (nach hier favorisierter Ansicht allein eklatant „fehlerhafter“ iS unvertretba-
rer) Entscheidungen der Geschworenen, kann nicht das Zusammentreffen zweier identer, unver-
tretbarer Entscheidungen in derselben Sache zu einer Erledigung iSd § 334 Abs 4 StPO führen, da
bejahendenfalls der Sinn der Aussetzungsvorschrift an sich ad absurdum gefĂĽhrt wĂĽrde.100 Die in
heutiger Zeit wohl richtigerweise als exotisch empfundene Bindungswirkung an das sog „Volks-
recht“,101 welche aus der Entstehungsgeschichte der Geschworenengerichtsbarkeit zwar historisch
erklärbar ist (so sollte der absolutistische und wenig von Individualrechten geprägte Staat seine
Bürger nicht mittels Anwendung der Vorgängervorschriften des § 334 StPO ohne Gründe und
Überprüfungsmöglichkeit wiederholt wegen desselben Tatvorwurfs vor ein Strafgericht stellen
dürfen),102 und dem § 334 Abs 4 StPO sein Gepräge verleiht, ist unter dogmatischen, Gerechtig-
keits- und Wahrheitsgesichtspunkten schlicht verfehlt: Aus zweimal tatsächlich oder rechtlich völlig
unvertretbaren Entscheidungen kann in einer Zusammenschau insoweit nicht eine korrekte wer-
den, selbst wenn die genannten Entscheidungen von zwei unterschiedlichen Geschworenenbän-
ken getroffen wurden. Eine derartige Norm widerspricht dem Hauptziel jedes aufgeklärten und
modernen Strafverfahrens, der möglichst exakten Rekonstruktion eines historischen Geschehens
und der vertretbaren rechtlichen Beurteilung desselben,103 und steht auch im Widerspruch mit
allgemeinen Gerechtigkeitserwägungen. Dogmatisch stellt die in § 334 Abs 4 StPO zum Ausdruck
kommende, abzulehnende Bindung an ein auf dem Wahrspruch der Geschworenen basierendes
Urteil, das allein auf Grund der Aussetzung und dem identen Ergebnis in der Hauptsache nunmehr
(unter den Kautelen des § 334 StPO) gelten soll, eine rechtsstaatlich bedenkliche Konstruktion so-
wie im Gesamtsystem des Strafverfahrensrechts einen – historisch zu erklärenden, wenngleich zu
eliminierenden – Fremdkörper dar.
G. Anwendungspraxis des § 334 StPO und diesbezügliche Indizwirkung
Einleitend ist an dieser Stelle zu bemerken, dass im Moment umfangreiche Erhebungen zur Aus-
setzungspraxis in Ă–sterreich nicht bestehen; die insofern signifikanteste (wenngleich beinahe soli-
tär zitierte) Studie von Burgstaller, Schima und Császár datiert aus dem Jahre 1968 und vermag
daher kaum noch als aktuell zu gelten. Der (zumindest in jĂĽngster Zeit wohl etwas zweifelhaft ge-
wordene)104 allgemeine Verweis darauf, dass die Aussetzung sehr selten angewendet wird,105 darf
100 Vgl hierzu schon Roeder, JBl 1969, 587f.
101 Vgl hierzu tendenziell befürwortend Burgstaller in Burgstaller/Schima/Császár, Aussetzung 54 FN 152 mVa Würth;
siehe näher Moos in FS Rehberg 221f, welcher in Bezug auf diesen Begriff für die Akzeptanz eines Urteils das
irrationale Element des Rechtsempfinden des Volkes, welches in der moralischen Ăśberzeugung der Geschworenen
seinen Ausdruck findet, benennt, jenes mit Recht als in der Geschworenengerichtsbarkeit an sich als auch explizit
in § 334 Abs 4 StPO niedergelegt sieht und diesem Befund zustimmungswürdig mehr als kritisch gegenübersteht
(„Irrationale Rechtsfindung ist Willkür und auch inhaltlich nicht sinnvoll.“); siehe auch derselbe, JBl 2010, 76; ableh-
nend zu § 334 StPO ferner Roeder, JBl 1969, 587.
102 Vgl allgemein Lewisch, Geschworenengerichte 18 („Geschworenengerichte sind ein (institutionelles) Instrument
zur Beschränkung der Staatsmacht in der Strafjustiz im Interesse der Freiheitssphäre des Einzelnen.“); derselbe,
AnwBl 2010, 216; hierzu ferner Reindl-Krauskopf, AnwBl 2010, 224.
103 Siehe (unter ausdrĂĽcklicher Bezugnahme auf geschworenengerichtliche Verfahren) insofern allgemein Lewisch,
Geschworenengerichte 29.
104 Siehe insofern zu den Aussetzungen dreier Urteile des LG fĂĽr Strafsachen Wien in einem Zeitraum von sieben
Tagen OGH 28. 6. 2018, 11 Ns 37/18g; OGH 14. 5. 2018, 12 Ns 20/18i; OGH 28. 6. 2018, 12 Ns 27/18v.
105 So würden (freilich unter Auswertung wenig aussagekräftiger Beobachtungszeiträume) nur ca 2,4% aller geschwo-
renengerichtlichen Urteile ausgesetzt; siehe (trotz des Alters der Daten) Schima in Burgstaller/Schima/Császár,
Aussetzung 62; Sadoghi, JSt 2008, 80 f; ferner (auch zu neueren Daten mit ähnlichen prozentualen Ergebnissen
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Austrian Law Journal
Volume 1/2019
- Title
- Austrian Law Journal
- Volume
- 1/2019
- Author
- Karl-Franzens-Universität Graz
- Editor
- Brigitta Lurger
- Elisabeth Staudegger
- Stefan Storr
- Location
- Graz
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- Size
- 19.1 x 27.5 cm
- Pages
- 126
- Keywords
- Recht, Gesetz, Rechtswissenschaft, Jurisprudenz
- Categories
- Zeitschriften Austrian Law Journal