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ALJ 2/2016 Allgemeine Handlungsfreiheit im System der österreichischen Bundesverfassung 111
holte Betonung der Eignung des Verbots, Störungen des Gemeinschaftslebens hintanzuhalten,
ihrerseits dazu geeignet ist, die sonst unterlassene VerhĂ€ltnismĂ€ĂigkeitsprĂŒfung zu ersetzen.12
Eine Entscheidungsbesprechung vor diesem Hintergrund wÀre also durchaus reizvoll und wohl
auch unterhaltsam. Geboten wird sie hier bewusst nicht. Vielmehr soll eine grundsÀtzlichere
Frage ins Zentrum der nachfolgenden Ăberlegungen stehen:
III. (Keine) Allgemeine Handlungsfreiheit (?)
Hat der VfGH nicht eigentlich recht, wenn er sich nicht allzu tiefgehend mit der vorliegenden
Beschwerde auseinandersetzt? Immerhin: Ein gesondertes Recht, auf öffentlichen PlÀtzen Alko-
hol zu trinken, enthÀlt die österreichische Bundesverfassung bekanntlich nicht. Und wenn der
ErstbeschwerdefĂŒhrer auf Basis von Art 8 EMRK vorbringt, mit einem solchen Verbot wĂŒrde âin
unzulÀssiger Weise in [seine] persönliche Autonomie [eingegriffen], [in] sein Recht, Entscheidun-
gen bezĂŒglich des eigenen Lebens ohne Einmischung des Staates zu treffenâ,13 so ist dem wohl
entgegenhalten, dass das ein wenig ĂŒberzeichnet ist.14 Denn die angesprochene GewĂ€hrleistung
schĂŒtzt zwar die qualifizierte Selbstverwirklichung des Individuums, umfasst aber, wie es der
VfGH bereits an anderer Stelle festgehalten hat,15 keine âAllgemeine Handlungsfreiheitâ.16
Und darauf aufbauend mĂŒsste man sagen: âIn Ăsterreich gibt es kein Grundrecht der allgemei-
nen Handlungsfreiheit.â17 Anders als etwa die französische Verfassungsordnung18 oder auch das
12 VfGH 9. 12. 2015, E 50/2015, E 59/2015 Rz 29. âDaran, dass das in der ortspolizeilichen Verordnung normierte
Alkoholverbot geeignet ist, die die örtliche Gemeinschaft störenden Folgen von Alkoholkonsum hintanzuhalten,
besteht fĂŒr den Verfassungsgerichtshof kein Zweifel.â Sowie Rz 32: âDie Alkoholverbots-VO mit ihrer klaren An-
ordnung ist eine MaĂnahme, die geeignet ist, die Störung des Gemeinschaftslebens auf den in der Verordnung
bezeichneten öffentlichen FlĂ€chen zu verhindern.â Vgl idZ insb auch die pauschale Bewertung in Rz 30: Auch der
Umstand, dass â wie die BeschwerdefĂŒhrer meinen (!) â das Verbot in den von der Verordnung erfassten Berei-
chen sogar das Trinken bloĂ eines Glases Wein verbietet, macht die Verordnung nicht verfassungswidrig.
13 VfGH 9. 12. 2015, E 50/2015, E 59/2015 Rz 4.
14 Anders zur Reichweite der AutonomiegewÀhrleistung gemÀà Art 8 EMRK etwa Weichselbaum, Die Bettelverbote
in der Judikatur des VfGH, in Baumgartner (Hrsg), Jahrbuch Ăffentliches Recht 2013, 37.
15 VfSlg 19.662/2012: âArt 8 EMRK stellt auch die menschliche Persönlichkeit selbst in ihrer IdentitĂ€t, IndividualitĂ€t
und IntegritÀt unter Schutz. Die Selbstverwirklichung umfasst auch das Recht, einen individuellen Lebensstil zu
pflegen. Art 8 EMRK ist dabei auf den Schutz der unterschiedlichen Ausdrucksformen der menschlichen Persön-
lichkeit gerichtet. Nicht umfasst ist allerdings eine allgemeine Handlungsfreiheit (Grabenwarter/Pabel, [EuropÀi-
sche Menschenrechtskonvention5, 2012], Rz 12). Nicht jedes menschliche Handeln stellt also zugleich eine von
Art 8 EMRK geschĂŒtzte Ausdrucksform der Persönlichkeit dar (EGMR 24.11.2009, FĂ€lle Friend u. Countryside Alli-
ance, Appl. 16.072/06 und 27.809/08).â Der EGMR argumentiert im angefĂŒhrten Urteil auch ein breites VerstĂ€nd-
nis âof Article 8 does not mean[âŠ] that it protects every activity a person might seek to engage in with other hu-
man beings in order to establish and develop such relationships. It will not, for example, protect interpersonal
relations of such broad and indeterminate scope that there can be no conceivable direct link between the action
or inaction of a State and a personâs private life (see, mutatis mutandis, Botta v. Italy, 24 February 1998, § 35, Re-
ports of Judgments and Decisions 1998-I). By the same token, it cannot be said that, because an activity allows an
individual to establish and develop relationships, it falls within the scope of Article 8 such that any regulation of
that activity will automatically amount to an interference with that individual's private life.â (Rz 41). Und ĂŒber-
haupt finde sich ânothing in the Court's established case-law which suggests that the scope of private life ex-
tends to activities which are of an essentially public nature. In this respect, the Court also considers [it to be] cor-
rect to draw a distinction between carrying out an activity for personal fulfilment and carrying out the same ac-
tivity for a public purpose, where one cannot be said to be acting for personal fulfilment alone.â (Rz 42). Vgl aus
der neueren Rsp nur EGMR 12. 2. 2016, 61496/08, BÄrbulescu/Romania Rz 35 ff.
16 Vgl nÀher zur Judikatur igZ Bezemek, Grundrechte in der Rechtsprechung (2016) § 11 Rz 6.
17 Storr, Die österreichische Bundesverfassung â eine Hausbesichtigung, ZfV 2009, 530 (532).
18 Dazu etwa die Nachweise bei Ronellenfitsch, Die VerkehrsmobilitÀt als Grund- und Menschenrecht, in HÀberle
(Hrsg), Jahrbuch des Ăffentlichen Rechts der Gegenwart 44 (1996) 167 (184 ff), sowie bei Hochmann, Grundrechte, in
Marsch ea (Hrsg), Französisches und Deutsches Verfassungsrecht: Ein Rechtsvergleich (2015) 323 (349 ff).
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Austrian Law Journal
Volume 2/2016
- Title
- Austrian Law Journal
- Volume
- 2/2016
- Author
- Karl-Franzens-UniversitÀt Graz
- Editor
- Brigitta Lurger
- Elisabeth Staudegger
- Stefan Storr
- Location
- Graz
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- Size
- 19.1 x 27.5 cm
- Pages
- 40
- Keywords
- Recht, Gesetz, Rechtswissenschaft, Jurisprudenz
- Categories
- Zeitschriften Austrian Law Journal