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ALJ 2/2017 Digitalisierung und Selbstbestimmung 142
Zählen, Registrieren und Katalogisieren beschäftigte die Gerichte immer wieder. Zentral ist dabei
das Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts. In seiner Entscheidung vom 15. 12.
198313 sprach das Gericht erstmals von einem Grundrecht auf informationelle Selbstbestim-
mung. Anlass dafür war das Volkszählungsgesetz 1983.14 Über eine Volkszählung, Berufszählung,
Wohnungszählung und Arbeitsstättenzählung sollten sämtliche EinwohnerInnen der Bundesre-
publik Deutschland statistisch erfasst werden.15 Nicht zuletzt die Furcht vor unkontrollierbarer
Persönlichkeitserfassung führte zu den entscheidungsursächlichen Verfassungsbeschwerden.16
Im Ergebnis entschied das Bundesverfassungsgericht, dass die „[f]reie Entfaltung der Persönlichkeit
[…] unter den modernen Bedingungen der Datenverarbeitung den Schutz des Einzelnen gegen unbe-
grenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten voraus[setzt].
[…] Das Grundrecht gewährleistet insoweit die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die
Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen.“17 Begründend führte das Bun-
desverfassungsgericht ua aus, dass technologische Innovationen die menschliche Persönlichkeit
zunehmend gefährden, da sie es ermöglichen würden, vollständige Persönlichkeitsbilder zu er-
stellen und dies weitgehend unkontrollierbar durch die jeweils Betroffenen.18
Die Digitalisierung ermöglicht nicht nur, Personen umfassend zu zählen, zu registrieren und zu
katalogisieren, sondern auch Personen und ihre Handlungen zu überwachen sowie die dabei
eruierten Daten zu speichern und zu archivieren.19 Überwachung dient dabei der Gewährleistung
rechtskonformen Verhaltens einerseits und der Vorbeugung von Straftaten andererseits. Die
zuvor erörterte, durch das deutsche Bundesverfassungsgericht konstatierte Gefährdung der
freien Persönlichkeitsentfaltung und Selbstbestimmung trifft auf die vielfachen Überwachungs-
möglichkeiten ebenfalls zu; auch diese haben die Gerichte in unterschiedlicher Weise beschäftigt.
Der österreichische VfGH prüfte beim Section-Control-Erkenntnis20 das automatische Geschwin-
digkeitsmesssystem21 auf seine Verfassungskonformität. Im Ergebnis hielt er die Datenermittlung
und -verwendung zwar für zulässig, allerdings nicht flächendeckend und nur zweckgebunden, zur
„Überwachung der Einhaltung straßenpolizeilicher Vorschriften“.22 Diese Zweckbindung verpflichtet
auch dazu, dass das Geschwindigkeitsmesssystem schon technologisch so gestaltet sein muss,
dass unzulässig aufbewahrte Daten unverzüglich zu löschen sind.23 Darüber hinaus ist die Über-
wachung auch vor Ort anzukündigen.24 Ähnlich wie in den zuvor erörterten Entscheidungen des
13 BVerfGE 65, 1 ff.
14 Gesetz über eine Volks-, Berufs-, Wohnungs- und Arbeitsstättenzählung, dBGBl I 1982/369.
15 „Mit der Volkszählung und Berufszählung werde ein vielfältiges Strukturbild der Bevölkerung in tiefer regionaler Gliede-
rung gewonnen.“ BVerfGE 65, 1 (11); siehe nur Mendes, Schutz vor Informationsrisiken und Gewährleistung einer
gehaltvollen Zustimmung (2015) 24.
16 BVerfGE 65, 1 (3).
17 BVerfGE 65, 1 (31).
18 BVerfGE 65, 1 (30 f).
19 Für die Herausforderungen, die sich bei digitaler Überwachung im Namen von Anti-Terrormaßnahmen stellen
siehe Lachmayer/Witzleb, The challenge to privacy from ever increasing state surveillance: a comparative perspec-
tive, UNSW Law Journal 2014, 748.
20 VfGH 15. 6. 2007, G 147/06 ua, 3.
21 § 100 Abs 5 b StVO 1960, BGBl 1960/159 idF BGBl I 2002/80 sowie des § 134 Abs 3 b Satz 1 Kraftfahrgesetz 1967,
BGBl 1967/267 idF BGBl I 2002/80.
22 VfGH 15. 6. 2007, G 147/06 ua, 22.
23 VfGH 15. 6. 2007, G 147/06 ua, 22.
24 VfGH 15. 6. 2007, G 147/06 ua, 25. Mittlerweile haben die Sicherheitsbehörden gem § 54 Abs 6 Sicherheitspoli-
zeigesetz, BGBl 1991/566 idF BGBl I 2017/130, die Möglichkeit, den öffentlichen Raum präventiv zu überwachen,
dabei können sie Verkehrsdaten aus der Section Control verwenden.
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Austrian Law Journal
Volume 2/2017
- Title
- Austrian Law Journal
- Volume
- 2/2017
- Author
- Karl-Franzens-Universität Graz
- Editor
- Brigitta Lurger
- Elisabeth Staudegger
- Stefan Storr
- Location
- Graz
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- Size
- 19.1 x 27.5 cm
- Pages
- 108
- Keywords
- Recht, Gesetz, Rechtswissenschaft, Jurisprudenz
- Categories
- Zeitschriften Austrian Law Journal