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nen betreffen dürfen.89 Das heißt, auch im Rahmen der EMRK sind Legalenteignungen nicht per
se ausgeschlossen.
Darüber hinaus gewährt der EGMR bei der Beurteilung, inwieweit eine nationale Maßnahme
Konventionsrechte mit Gesetzesvorbehalt verletzen kann, ganz grundsätzlich den Mitgliedstaaten
einen Ermessensspielraum.90 Bezüglich des öffentlichen Interesses im Hinblick auf die Beurtei-
lung von Eingriffen in die Eigentumsfreiheit gem Art 1 1. ZP zur EMRK halten sich die Straßburger
Richter im Speziellen zurück und gestehen den Mitgliedstaaten eine bessere Einschätzung des-
selben zu. In diesen weiten nationalen Ermessensspielraum wird folglich nur bei offensichtlich
unvernünftiger Begründung eingegriffen.91 Im Hinblick auf die Möglichkeit, dass sich die Be-
schwerdeführerin nach der für sie negativen Entscheidung des VfGH an den EGMR wenden könn-
te,92 hat der VfGH vorsorglich ein rezentes Urteil des EGMR zitiert.93 In Perincek v. CH hatte der
EGMR zu beurteilen, ob die öffentliche Leugnung des armenischen Holocaust von Herrn Doğu
Perinçek und dessen Verurteilung vor Schweizer Gerichten gem der „Rassismus-Strafnorm“ (Art 261
bis Abs 4 Schweizerisches Strafgesetzbuch) das Recht auf Meinungsfreiheit gem Art 10 EMRK
verletzt hat. Obwohl der EGMR das Recht auf Meinungsfreiheit in diesem Fall verletzt sah, hat er
klargestellt, dass er für besonders dringende Anliegen Konventionsrechte einzuschränken stets
den historischen Kontext des betroffenen Mitgliedstaates berücksichtigt.94 Zudem stellte der
EGMR klar, dass dies insbesondere für den Holocaust zutrifft.95
In Anbetracht des Ermessensspielraums für Mitgliedsstaaten in der Beurteilung des öffentlichen
Interesses, sowie der ausdrücklichen Erwähnung des spezifischen historischen Kontexts der Mit-
gliedsstaaten ist eine Feststellung der Konventionswidrigkeit im Sinne einer Verletzung von Art 1
1. ZP zur EMRK im vorliegenden Fall nicht sehr wahrscheinlich.96 Dies ist bis zu einem Urteil des
EGMR allerdings eine Spekulation. Dementsprechend heikel ist die aktuelle Situation. Denn von
der Beschwerdeführerin kann im Rahmen des Verfahrens vor dem EGMR nicht nur wie üblich
89 Siehe dazu Meyer-Ladewig/v. Raumer in Meyer-Ladewig/Nettesheim/v. Raumer, EMRK, Art 1 1. ZP zur EMRK Rz 35
FN 87 mwN auf EGMR 23. 11. 2000 (GK), 25701/94, Ehemaliger König von Griechenland/Griechenland Rz 79-82. Die
Regierung Griechenlands gestand zu (Rz 80): „Undeniably, both these laws had an individual character. However, the
circumstances of the case were unique: in any recent republic there was only one former royal family. Such a family
was not in a position comparable to that of any other family. Legislation relating to their property would, by definition,
relate to that family alone; still, that could not deprive the legislation of its legitimacy.“ Und der EGMR erkannte dies
an (Rz 82): „To sum up, the deprivation was provided for by law, as required by Article 1 of Protocol No. 1.“
90 Vgl dazu Bezemek, Grundrechte in der Rechtsprechung der Höchstgerichte (2016) 60–63.
91 Vgl Meyer-Ladewig/v. Raumer in Meyer-Ladewig/Nettesheim/v. Raumer, EMRK, Art 1 1. ZP zur EMRK Rz 36–39;
sowie Grabenwarter/Pabel, EMRK6 Rz 19 mwN in FN 120 und 121; Korinek in Korinek/Holoubek, B-VG Art 1 1. ZP zur
EMRK Rz 13 verlautbart äußerst selbstsicher: „Angesichts der in der österreichischen Lehre und Judikatur entwickel-
ten relativ strengen Anforderungen an die Voraussetzungen für die Zulässigkeit einer Enteignung nach Art 5 StGG, ha-
ben die diesbezüglichen Anordnungen des ZP für Österreich insofern keine Relevanz; sie sind jedoch für die Frage der
Entschädigungspflicht bei Enteignungen von Bedeutung.“ [Vw ausgelassen].
92 Gem Art 35 Abs 1 EMRK hat die vormalige Eigentümerin für die Erhebung einer Individualbeschwerde beim
EGMR bis zu 6 Monate nach der endgültigen innerstaatlichen Entscheidung Zeit. Vgl dazu Grabenwarter/Pabel,
EMRK6 Rz 39–40.
93 VfSlg 20.186/2017 Rz 32.
94 EGMR 15. 10. 2015 (GK), 27510/08, Perinçek/CH Rz 242.
95 Ibid Rz 243; vgl ebenso EGMR 8. 11. 2012, 43481/09, PETA Deutschland/Deutschland, Rz 49, worin der EGMR speziell
auf den historischen und sozialen Kontext der Meinungsäußerung abstellt und Deutschland in Bezug auf die
PETA Kampagne „The Holocaust on your plate” insbesondere als sensiblen Ort herausstellt. Gerade die einschlägige
spezielle Verpflichtung Deutschlands wurde daher als Rechtfertigungsgrund für die Einschränkung der Meinungs-
äußerungsfreiheit gem Art 10 EMRK vom EGMR akzeptiert.
96 Nicht zuletzt auch nur deshalb, weil man sich an das von Bezemek in FS Holzinger 184 insb FN 64, bereits (in
einem anderen Verfahren bezüglich einer Enteignung) zitierte Palström’sche Argument „dass eben nicht sein kann,
was nicht sein darf“ von Christian Morgenstern erinnert fühlt.
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Austrian Law Journal
Volume 2/2018
- Title
- Austrian Law Journal
- Volume
- 2/2018
- Author
- Karl-Franzens-Universität Graz
- Editor
- Brigitta Lurger
- Elisabeth Staudegger
- Stefan Storr
- Location
- Graz
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- Size
- 19.1 x 27.5 cm
- Pages
- 94
- Keywords
- Recht, Gesetz, Rechtswissenschaft, Jurisprudenz
- Categories
- Zeitschriften Austrian Law Journal