Page - 164 - in Austrian Law Journal, Volume 3/2017
Image of the Page - 164 -
Text of the Page - 164 -
ALJ 3/2017 Das bewegliche System 164
zu erfüllen hat, so ist dem österreichischen und dem französischen Gesetzgeber eine Unzuläng-
lichkeit vorzuwerfen: Wenn zahlreiche Grundfragen nicht oder nur so unbestimmt angesprochen
werden, dass keine Leitlinien vorgegeben werden und die Auslegung in völlig entgegengesetzte
Richtungen möglich ist, dann hat die Kodifikation ihre Aufgabe nicht wirklich erfüllt.
Daher wären ähnlich allgemein und unbestimmt formulierte Normen auch kaum für jene Rege-
lungswerke geeignet, die der Rechtsvereinheitlichung in Europa dienen sollen, da sie in den ein-
zelnen Staaten aufgrund ihrer unterschiedlichen Tradition sicherlich höchst unterschiedlich aus-
gelegt würden. Das ist meines Erachtens ein ganz erheblicher Mangel etwa der Grundregeln des
Europäischen Vertragsrechts, die ständig auf „good faith and fair dealing [art 1:102 (1); 1:106 (1);
1:201; 1:302; 1:305; 2:301 (2); 4:118 (2)], unfair advantage [4:117, 118] oder unreasonable in the cir-
cumstances [9:101 (2) (b); 9:201 (1)]“ verweisen, ohne irgendwelche Anhaltspunkte zu geben, was
darunter zu verstehen ist.
Das führt zu einer betrüblichen Erkenntnis: Einerseits machen es die Vielschichtigkeit des Privat-
rechts und die Vielfalt der zu regelnden Sachverhalte unmöglich, stets feste und detaillierte Nor-
men zu formulieren, die in allen Einzelfällen zu sachgerechten Entscheidungen führen. Dazu
kommt, dass die zukünftige gesellschaftliche, technische und wirtschaftliche Entwicklung nicht
absehbar ist und starre Regeln die erforderliche Anpassung und Fortentwicklung – zumindest mit
den legitimen methodischen Instrumenten – verhindern. Andererseits ist zu bedenken, dass der
Gesetzgeber eine Leitungsaufgabe zu erfüllen hat und er dieser nicht nachkommt, wenn er es
unterlässt, die maßgebenden Wegweiser vorzugeben. Ganz in diesem Sinn wird betont,12 dass
das heutige Schadenersatzrecht wegen der Unzulänglichkeit des ehrwürdigen ABGB in wesentli-
chen Teilen Richterrecht ist und einer Reform bedarf.
Zu betonen ist schließlich, dass die Formulierung von scheinbar festen Regeln keine Abhilfe bie-
tet. Wird etwa von der Rechtswidrigkeit als Haftungsvoraussetzung gesprochen, ohne näher zu
sagen, ob darunter Erfolgs- oder Verhaltensunrecht zu verstehen und ohne Hinweise zu bieten,
wie das Unrecht zu ermitteln ist, so würde durch die Verwendung derart unbestimmter Rechts-
begriffe lediglich eine nicht weiter führende Schein-Bestimmtheit der Norm erreicht werden, die
keinen Fortschritt bringt.13
II. Vorzüge des beweglichen Systems
Die bisher gewonnenen Erkenntnisse legen die Vermutung nahe, dass eine Mittellösung zwischen
den bisher begangenen Wegen gesucht werden sollte, und es ist wohl nicht überraschend, wenn
ich damit auf die insb von Walter Wilburg,14 Franz Bydlinski,15 Claus-Wilhelm Canaris16 und Bernd
12 Hopf, Das Reformvorhaben, in Griss/Kathrein/Koziol (Hrsg), Entwurf eines neuen österreichischen Schadenersatz-
rechts (2006) 17 (18).
13 Siehe dazu auch F. Bydlinski, Methodenlehre 627 f.
14 Wilburg, Entwicklung eines beweglichen Systems im bürgerlichen Recht (1950; englische Übersetzung von Haus-
maninger: Wilburg, The Development of a Flexible System in the Area of Private Law [2000]); Wilburg, Zusammen-
spiel der Kräfte im Aufbau des Schuldrechts, AcP 163 (1964) 346.
15 F. Bydlinski, Bewegliches System und juristische Methodenlehre, in F. Bydlinski/Krejci/Schilcher/V. Steininger (Hrsg), Das
bewegliche System im geltenden und künftigen Recht (1986) 21; F. Bydlinski, Methodenlehre 529 ff; F. Bydlinski, Das
bewegliche System und die Notwendigkeit einer Makrodogmatik, JBl 1996, 683.
16 Canaris, Systemdenken 74 ff; Canaris, Bewegliches System und Vertrauensschutz im rechtsgeschäftlichen Ver-
kehr, in F. Bydlinski/Krejci/Schilcher/V. Steininger (Hrsg), Das bewegliche System im geltenden und künftigen Recht
(1986) 103; Canaris, Die Gefährdungshaftung im Lichte der neueren Rechtsentwicklung, JBl 1995, 2.
back to the
book Austrian Law Journal, Volume 3/2017"
Austrian Law Journal
Volume 3/2017
- Title
- Austrian Law Journal
- Volume
- 3/2017
- Author
- Karl-Franzens-Universität Graz
- Editor
- Brigitta Lurger
- Elisabeth Staudegger
- Stefan Storr
- Location
- Graz
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- Size
- 19.1 x 27.5 cm
- Pages
- 66
- Keywords
- Recht, Gesetz, Rechtswissenschaft, Jurisprudenz
- Categories
- Zeitschriften Austrian Law Journal