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ALJ 3/2017 Das bewegliche System 168
jeden Rechtsanwender, der zu system- und sachgerechten sowie nachvollziehbaren Ergebnissen
kommen soll und will, selbstverständlich ist.
Bisher habe ich stets nur vage von den maĂźgebenden Faktoren gesprochen; wie diese ermittelt
werden, ist eine fĂĽr die Anwendung und die Bedeutung des beweglichen Systems ganz entschei-
dende Frage und bedarf selbstverständlich der Konkretisierung, um Fehlvorstellungen zu vermei-
den. Es kann – wie schon F. Bydlinski32 betont hat – kein Zweifel daran bestehen, dass es Wilburgs
Ideen widerspräche, wenn es der Entscheidung des Rechtsanwenders überlassen bliebe, nach
seinem Belieben die zu berücksichtigenden Faktoren (Prinzipien) zu bestimmen. Das würde näm-
lich im Ergebnis zu einem freien Ermessen des Rechtsanwenders und damit zu einer Orientie-
rung an der Billigkeit führen. Dies käme jedoch in Wahrheit dem Verzicht auf ein System gleich
um dessen Entwicklung Wilburg jedoch gerade bemĂĽht ist. Ihm geht es vielmehr darum, dem
Richter keine freie Entscheidung einzuräumen, sondern bloß ein „gelenktes Ermessen“.33 Er be-
tont daher ausdrücklich: „Es ist gerade der Sinn meines Vorschlages, zu vermeiden, daß das Gericht
nur auf Billigkeit, auf jeweiliges Rechtsempfinden, auf gute Sitten oder ähnliche inhaltslose Begriffe
verwiesen wird.“ Nach Wilburgs Verständnis vom beweglichen System, das zu einem vom Gesetz-
geber gelenkten Ermessen des Richters fĂĽhren soll, ist es daher ganz entscheidend, dass die
beschränkte Zahl34 der zu berücksichtigenden Elemente oder Faktoren vom Gesetz genannt und
umschrieben werden, zumindest aber aus dem Gesetz – gemäß den in §§ 6 und 7 ABGB normier-
ten Grundsätzen – ableitbar sein müssen. In jedem Einzelfall sind überdies nicht nur die maßge-
benden Faktoren zu identifizieren, sondern auch – soweit möglich – die unterschiedlichen Ge-
wichte der einzelnen Faktoren, da nur dann eine ausgewogene Lösung auf der Basis der leiten-
den, der Regelung zugrunde liegenden Wertungen möglich ist.
Wilburg35 umschreibt den Vorteil dieser Vorgangsweise folgendermaßen: „Dieses System kann alle
denkbaren Fälle in ihrer Eigenart erfassen. Es ist gegenüber den bisherigen Grundsätzen elastisch und
zerbricht nicht wie ein Werk aus Glas, wenn sich das Werturteil ĂĽber die Kraft der einzelnen Elemente,
zum Beispiel über die Gefährlichkeit eines Betriebes, im Laufe der Zeiten ändert. Auch das Hinzutreten
neuer Gesichtspunkte und Kräfte ist möglich.“ Wenn Wilburg dabei auf die Möglichkeit der Änderung
der Werturteile ĂĽber einzelne Elemente und auf das Hinzutreten neuer Gesichtspunkte hinweist, so
meint er damit nicht die Befugnis des Rechtsanwenders, nach seinem Belieben vorzugehen, son-
dern – ganz im Sinne des eben Ausgeführten – dass der Rechtsordnung derartige Veränderungen
entnommen werden können. Wilburg anerkennt damit lediglich eine Offenheit des Systems für
Veränderungen; eine derartige Wandlungsfähigkeit der Rechtsordnung ist – wie Canaris36 betont –
dem juristischen System wesenseigentĂĽmlich, somit keine Besonderheit des beweglichen Systems.
Die häufig nicht sehr kenntnisreiche Kritik am beweglichen System beruht immer wieder auf der
Fehlvorstellung, deren Anhänger verfolgten das Ziel, möglichst bewegliche, unbestimmte, unklare,
beliebige und verschwommene Tatbestände zu formulieren. Diese Behauptung ist allerdings
völlig unzutreffend und kommt einer Verleumdung nahe. Der führende Vertreter der Lehre vom
beweglichen System, Franz Bydlinski,37 betont vielmehr ein ganz andere Grundforderung: „Soweit
32 F. Bydlinski, Methodenlehre 532 f.
33 Bewegliches System 22.
34 Canaris, Systemdenken 77 f.
35 Bewegliches System 13 f.
36 Canaris, Systemdenken 63 ff.
37 F. Bydlinski, Methodenlehre 534.
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Austrian Law Journal
Volume 3/2017
- Title
- Austrian Law Journal
- Volume
- 3/2017
- Author
- Karl-Franzens-Universität Graz
- Editor
- Brigitta Lurger
- Elisabeth Staudegger
- Stefan Storr
- Location
- Graz
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- Size
- 19.1 x 27.5 cm
- Pages
- 66
- Keywords
- Recht, Gesetz, Rechtswissenschaft, Jurisprudenz
- Categories
- Zeitschriften Austrian Law Journal