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ALJ 3/2017 Das bewegliche System 172
sentlichem Irrtum. §§ 871 und 872 ABGB umschreiben den Unterschied nicht sehr deutlich, doch
kann das Gesetz dahin verstanden werden, dass die Kausalität des Irrtums und dessen Reichweite
maßgebend sein sollen: Ein wesentlicher Irrtum liegt dann vor, wenn der Vertrag bei irrtumsfreiem
Verhalten überhaupt nicht abgeschlossen worden wäre; ein unwesentlicher Irrtum ist hingegen
dann gegeben, wenn der Vertrag bei irrtumsfreiem Verhalten zwar ebenfalls geschlossen worden
wäre, jedoch mit anderem Inhalt. Bei der Beurteilung welche Art von Irrtum zu Diskussion steht,
ist selbstverständlich nicht nur der Wille des Irrenden zu berücksichtigen, sondern auch die Ab-
sicht des Partners. Wenn alle anderen Anfechtungsvoraussetzungen gegeben sind, berechtigt ein
wesentlicher Irrtum demnach zur Aufhebung des Vertrages, während ein unwesentlicher Irrtum
lediglich zur Anpassung des Vertrages führen kann, und zwar entsprechend dem Inhalt, auf den
sich die Parteien bei irrtumsfreiem Abschluss geeinigt hätten. Durch diese Abstufung der Rechts-
folgen verwirklicht das ABGB wesentlich besser als das BGB den Gedanken der Privatautonomie,
da es zur Herstellung genau jener rechtlichen Positionen führt, auf die sich die Partner bei irr-
tumsfreiem Abschluss entsprechend ihren wahren Absichten geeinigt hätten.
B. Geschützte Interessen
Nun zu einem schadenersatzrechtlichen Beispiel, und zwar zu § 129349 des österreichischen Dis-
kussionsentwurfs:50 Die Frage, welche Interessen geschützt sind und in welchem Umfang, ist häu-
fig nicht einfach. Die Grenzen des Schutzes sind selbst bei den anerkannten so genannten abso-
luten Rechten höchst unklar, da sie keineswegs tatsächlich absolut, also gegen jegliche Beein-
trächtigung, geschützt werden. Bei der Umgrenzung des Schutzbereiches darf man nämlich nicht
aus dem Auge verlieren, dass völlig gegenläufige Interessen im Spiel sind. Gewährt die Rechtsord-
nung den Rechten und Interessen einer Person Schutz, so verlangt sie damit von allen anderen,
diesen Bereich zu respektieren. Im Ergebnis führt daher jede Anerkennung eines geschützten
Bereiches zur Einschränkung der Bewegungsfreiheit aller anderen. Die Festlegung von geschütz-
ten Bereichen bedarf daher der Abwägung der gegenläufigen Interessen: Auf der einen Seite steht
das Interesse an möglichst weitreichendem Schutz eines Rechts, auf der anderen das Interesse
an unbegrenzter Freiheit bei der Ausübung gegenläufiger Befugnisse.
Das zeigt sich besonders deutlich bei so manchen Persönlichkeitsrechten, da diesen regelmäßig,
Persönlichkeitsrechte anderer Personen oder Interessen der Allgemeinheit gegenüberstehen, bei
deren Wahrnehmung es zu einem Zusammenprall kommt. So steht etwa dem Recht auf Ehre das
Recht der anderen auf Meinungsfreiheit oder der Medienfreiheit gegenüber; dem Recht auf die
Privatsphäre steht das Informationsinteresse anderer Einzelpersonen oder der Allgemeinheit
gegenüber. Jegliche Grenzziehung bedarf daher einer umfassenden Abwägung aller beteiligten
Interessen, um eine Lösung zu finden, die zu einer möglichst weitgehenden Verwirklichung aller
49 § 1293 (1) Schaden ist jeder Nachteil, den jemand an seiner Person, an seinem Vermögen oder an seinen sonsti-
gen geschützten Interessen erleidet. Handelt es sich um einen geldwerten Nachteil, so liegt ein Vermögensscha-
den vor, sonst ein ideeller Schaden. (2) Der Schutz der Interessen richtet sich insb nach deren Rang und Wert,
Abgrenzbarkeit und Offenkundigkeit, aber auch nach den Interessen anderer an freier Entfaltung und an der
Ausübung von Rechten sowie nach den Interessen der Allgemeinheit. (3) Die klar umgrenzten und offenkundigen
Persönlichkeitsrechte, wie vor allem das Leben und die körperliche Unversehrtheit, die dinglichen Rechte sowie
die Immaterialgüterrechte, genießen den höchsten Schutz. Reine Vermögensinteressen werden außerhalb von
Schuldverhältnissen nur ausnahmsweise geschützt.
50 Ausgearbeitet von einer vom BMJ eingesetzten Arbeitsgruppe. Die überarbeitete Fassung des Diskussionsent-
wurfs vom 26. 6. 2007 wurde in JBl 2008, 365, sowie in ZVR 2008, 168, veröffentlicht. Ausführlicher zur Erstfas-
sung siehe Griss/Kathrein/Koziol (Hrsg), Entwurf eines neuen österreichischen Schadenersatzrechts (2006).
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Austrian Law Journal
Volume 3/2017
- Title
- Austrian Law Journal
- Volume
- 3/2017
- Author
- Karl-Franzens-Universität Graz
- Editor
- Brigitta Lurger
- Elisabeth Staudegger
- Stefan Storr
- Location
- Graz
- Date
- 2017
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- Size
- 19.1 x 27.5 cm
- Pages
- 66
- Keywords
- Recht, Gesetz, Rechtswissenschaft, Jurisprudenz
- Categories
- Zeitschriften Austrian Law Journal