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Der Amokläufer
Im März des Jahres 1912 ereignete sich im Hafen von Neapel bei dem
Ausladen eines großen Überseedampfers ein merkwürdiger Unfall, über den
die Zeitungen umfangreiche, aber sehr phantastisch ausgeschmückte Berichte
brachten. Obzwar Passagier der »Oceania«, war es mir ebensowenig wie den
andern möglich, Zeuge jenes seltsamen Vorfalles zu sein, weil er sich zur
Nachtzeit während des Kohlenladens und der Löschung der Fracht abspielte,
wir aber, um dem Lärm zu entgehen, alle an Land gegangen waren und dort in
Kaffeehäusern oder Theatern die Zeit verbrachten. Immerhin meine ich
persönlich, daß manche Vermutungen, die ich damals nicht öffentlich äußerte,
die wirkliche Aufklärung jener erregenden Szene in sich tragen, und die Ferne
der Jahre erlaubt mir wohl das Vertrauen eines Gespräches zu nutzen, das
jener seltsamen Episode unmittelbar vorausging.
*
Als ich in der Schiffsagentur von Kalkutta einen Platz für die Rückreise
nach Europa auf der »Oceania« bestellen wollte, zuckte der Clerk bedauernd
die Schultern. Er wisse noch nicht, ob es möglich sei, mir eine Kabine zu
sichern, das Schiff wäre jetzt knapp vor dem Einbruch der Regenzeit immer
schon von Australien her ausverkauft, er müsse erst das Telegramm von
Singapore abwarten. Am nächsten Tage teilte er mir erfreulicherweise mit, er
könne mir noch einen Platz vormerken, freilich sei es nur eine wenig
komfortable Kabine unter Deck und in der Mitte des Schiffes. Ich war schon
ungeduldig heimzukehren: so zögerte ich nicht lange und ließ mir den Platz
zuschreiben.
Der Clerk hatte mich richtig informiert. Das Schiff war überfüllt und die
Kabine schlecht, ein kleiner, gepreßter, rechteckiger Winkel in der Nähe der
Dampfmaschine, einzig vom trüben Blick der kreisrunden Glasscheibe
erhellt. Die stockende, verdickte Luft roch nach Öl und Moder: nicht für
einen Augenblick konnte man dem elektrischen Ventilator entgehen, der wie
eine toll gewordene stählerne Fledermaus einem surrend über der Stirne
kreiste. Von unten her ratterte und stöhnte, wie ein Kohlenträger, der
unablässig dieselbe Treppe hinaufkeucht, die Maschine, von oben hörte man
unaufhörlich das schlurfende Hin und Her der Schritte vom Promenadendeck.
So flüchtete ich, kaum daß ich den Koffer in das muffige Grab aus grauen
Traversen verstaut hatte, wieder zurück auf Deck, und wie Ambra trank ich,
aufsteigend aus der Tiefe, den süßlichen weichen Wind, der vom Lande her
über die Wellen wehte.
Aber auch das Promenadendeck war voll Enge und Unruhe: es flatterte und
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Amok
Novellen einer Leidenschaft
- Title
- Amok
- Subtitle
- Novellen einer Leidenschaft
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1922
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 158
- Categories
- Weiteres Belletristik