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Nacht«.
»Gute Nacht«, antwortete es aus dem Dunkel, eine heisere, harte,
eingerostete Stimme.
Ich stolperte mich mühsam vorwärts durch das Takelwerk an den Pfosten
vorbei. Da klang ein Schritt hinter mir her, hastig und unsicher. Es war der
Nachbar von vordem. Unwillkürlich blieb ich stehen. Er kam nicht ganz nah
heran, durch das Dunkel fühlte ich ein Irgendetwas von Angst und
Bedrücktheit in der Art seines Schrittes. »Verzeihen Sie,« sagte er dann
hastig, »wenn ich eine Bitte an Sie richte. Ich … ich – er stotterte und konnte
nicht gleich weitersprechen vor Verlegenheit – »ich … ich habe private …
ganz private Gründe, mich hier zurückzuziehen … ein Trauerfall … ich meide
die Gesellschaft an Bord … Ich meine nicht Sie … nein, nein … Ich möchte
nur bitten … Sie würden mich sehr verpflichten, wenn Sie zu niemandem an
Bord davon sprechen würden, daß Sie mich hier gesehen haben … Es sind …
sozusagen private Gründe, die mich jetzt hindern unter die Leute zu gehen …
ja … nun … es wäre mir peinlich, wenn Sie davon Erwähnung täten, daß
jemand hier nachts … daß ich … « Das Wort blieb ihm wieder stecken. Ich
beseitigte rasch seine Verwirrung, indem ich ihm eiligst zusicherte, seinen
Wunsch zu erfüllen. Wir reichten einander die Hände. Dann ging ich in meine
Kabine zurück und schlief einen dumpfen, merkwürdig verwühlten und von
Bildern verwirrten Schlaf.
*
Ich hielt mein Versprechen und erzählte niemandem an Bord von der
seltsamen Begegnung, obzwar die Versuchung keine geringe war. Denn auf
einer Seereise wird das Kleinste zum Geschehnis, ein Segel am Horizont, ein
Delphin, der aufspringt, ein neuentdeckter Flirt, ein flüchtiger Scherz. Dabei
quälte mich die Neugier, mehr von diesem ungewöhnlichen Passagier zu
wissen: ich durchforschte die Schiffsliste nach einem Namen, der ihm
zugehören konnte, ich musterte die Leute, ob sie zu ihm in Beziehung stehen
könnten: den ganzen Tag bemächtigte sich meiner eine nervöse Ungeduld,
und ich wartete eigentlich nur auf den Abend, ob ich ihm wieder begegnen
würde. Rätselhafte psychologische Dinge haben über mich eine geradezu
beunruhigende Macht, es reizt mich bis ins Blut, Zusammenhänge
aufzuspüren, und sonderbare Menschen können mich durch ihre bloße
Gegenwart zu einer Leidenschaft des Erkennenwollens entzünden, die nicht
viel geringer ist als jene des Besitzenwollens bei einer Frau. Der Tag wurde
mir lang und zerbröckelte leer zwischen den Fingern. Ich legte mich früh ins
Bett: ich wußte, ich würde um Mitternacht aufwachen, es würde mich
erwecken.
Und wirklich: ich erwachte um die gleiche Stunde wie gestern. Auf dem
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Amok
Novellen einer Leidenschaft
- Title
- Amok
- Subtitle
- Novellen einer Leidenschaft
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1922
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 158
- Categories
- Weiteres Belletristik