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Grauen überlief mich. Ich spürte, daß dieser Mensch sprechen wollte,
sprechen mußte. Und ich wußte, daß ich schweigen müsse, um ihm zu helfen.
Wir setzten uns wieder. Er hatte einen zweiten Deckchair dort, den er mir
anbot. Unsere Zigaretten funkelten, und an der Art, wie der Lichtring der
seinen unruhig im Dunkel zitterte, sah ich, daß seine Hand bebte. Aber ich
schwieg, und er schwieg. Dann fragte plötzlich seine Stimme leise:
»Sind Sie sehr müde?«
»Nein, durchaus nicht.«
Die Stimme aus dem Dunkel zögerte wieder. »Ich möchte Sie gerne um
etwas fragen … das heißt, ich möchte Ihnen etwas erzählen. Ich weiß, ich
weiß genau, wie absurd das ist, mich an den ersten zu wenden, der mir
begegnet, aber … ich bin … ich bin in einer furchtbaren psychischen
Verfassung … ich bin an einem Punkt, wo ich unbedingt mit jemandem
sprechen muß … ich gehe sonst zugrunde … Sie werden das schon verstehen,
wenn ich … ja, wenn ich Ihnen eben erzähle … Ich weiß, daß Sie mir nicht
werden helfen können … aber ich bin irgendwie krank von diesem
Schweigen … und ein Kranker ist immer lächerlich für die andern … «
Ich unterbrach ihn und bat ihn, sich doch nicht zu quälen. Er möge mir nur
erzählen … ich könne ihm natürlich nichts versprechen, aber man habe doch
die Pflicht, seine Bereitwilligkeit anzubieten. Wenn man jemanden in einer
Bedrängnis sehe, da ergebe sich doch natürlich die Pflicht zu helfen …
»Die Pflicht … seine Bereitwilligkeit anzubieten … die Pflicht, den
Versuch zu machen … Sie meinen also auch, Sie auch, man habe die
Pflicht … die Pflicht, seine Bereitwilligkeit anzubieten.«
Dreimal wiederholte er den Satz. Mir graute vor dieser stumpfen,
verbissenen Art des Wiederholens. War dieser Mensch wahnsinnig? War er
betrunken?
Aber als ob ich die Vermutung laut mit den Lippen ausgesprochen hätte,
sagte er plötzlich mit einer ganz andern Stimme: »Sie werden mich vielleicht
für irr halten oder für betrunken. Nein, das bin ich nicht noch nicht. Nur das
Wort, das Sie sagten, hat mich so merkwürdig berührt … so merkwürdig, weil
es gerade das ist, was mich jetzt quält, nämlich ob man die Pflicht hat … die
Pflicht … «
Er begann wieder zu stottern. Dann brach er kurz ab und begann mit einem
neuen Ruck.
»Ich bin nämlich Arzt. Und da gibt es oft solche Fälle, solche
verhängnisvolle … ja, sagen wir Grenzfälle, wo man nicht weiß, ob man die
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Amok
Novellen einer Leidenschaft
- Title
- Amok
- Subtitle
- Novellen einer Leidenschaft
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1922
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 158
- Categories
- Weiteres Belletristik