Page - 39 - in Amok - Novellen einer Leidenschaft
Image of the Page - 39 -
Text of the Page - 39 -
plötzlich … ich sah es … erinnerte sie sich … denn irgendein Schreck, eine
Abwehr … etwas … etwas Feindliches, Entsetztes spannte ihr Gesicht … sie
arbeitete mit den Armen, als wollte sie flüchten … weg, weg, weg von mir …
ich sah, sie dachte an das … an die Stunde von damals … Aber dann kam ein
Besinnen … sie sah mich ruhiger an, atmete schwer … ich fühlte, sie wollte
sprechen, etwas sagen … Wieder begannen die Hände sich zu spannen … sie
wollte sich aufheben, aber sie war zu schwach … Ich beruhigte sie, beugte
mich nieder … da sah sie mich an mit einem langen, gequälten Blick … ihre
Lippen regten sich leise … es war nur ein letzter erlöschender Laut, wie sie
sagte …
»Wird es niemand erfahren? … Niemand?«
»Niemand«, sagte ich mit aller Kraft der Überzeugung, »ich verspreche es
Ihnen.«
Aber ihr Auge war noch unruhig … Mit fiebriger Lippe ganz undeutlich
arbeitete sie’s heraus.
»Schwören Sie mir … niemand erfahren … schwören.«
Ich hob die Finger wie zum Eid. Sie sah mich an … mit einem … einem
unbeschreiblichen Blick … weich war er, warm, dankbar … ja, wirklich,
wirklich dankbar … Sie wollte noch etwas sprechen, aber es ward ihr zu
schwer. Lang lag sie, ganz matt von der Anstrengung, mit geschlossenen
Augen. Dann begann das Entsetzliche … das Entsetzliche … eine ganze
schwere Stunde kämpfte sie noch: erst morgens war es zu Ende … «
*
Er schwieg lange. Ich merkte es nicht eher, als vom Mitteldeck die Glocke
in die Stille schlug, ein, zwei, drei harte Schläge – drei Uhr. Das Mondlicht
war matter geworden, aber irgendeine andere gelbe Helle zitterte schon
unsicher in der Luft, und Wind flog manchmal leicht wie eine Brise her. Eine
halbe, eine Stunde mehr, und dann war es Tag, war dies Grauen ausgelöscht
im klaren Licht. Ich sah seine Züge jetzt deutlicher, da die Schatten nicht
mehr so dicht und schwarz in unsern Winkel fielen – er hatte die Kappe
abgenommen, und unter dem blanken Schädel schien sein verquältes Gesicht
noch schreckhafter. Aber schon wandten sich die glitzernden Brillengläser
wieder mir zu, er straffte sich zusammen, und seine Stimme hatte einen
höhnischen, scharfen Ton.
»Mit ihr wars nun zu Ende – aber nicht mit mir. Ich war allein mit der
Leiche – aber allein in einem fremden Haus, allein in einer Stadt, die kein
Geheimnis duldete, und ich … ich hatte das Geheimnis zu hüten … Ja,
denken Sie sich das nur aus, die ganze Situation: eine Frau aus der besten
39
back to the
book Amok - Novellen einer Leidenschaft"
Amok
Novellen einer Leidenschaft
- Title
- Amok
- Subtitle
- Novellen einer Leidenschaft
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1922
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 158
- Categories
- Weiteres Belletristik