Page - 65 - in Amok - Novellen einer Leidenschaft
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gestillte Erde, sein Weib. Ein blauer Abgrund schimmerte kühl zwischen ihm
und der Tiefe, wunschlos blickten sie einander an und fremd, der Himmel und
die Landschaft.
Ich ging hinab in den Saal. Die Menschen waren schon beisammen. Anders
war auch ihr Wesen als in diesen entsetzlichen Wochen der Schwüle. Alles
regte und bewegte sich. Ihr Lachen klang hell, ihre Stimmen melodisch,
metallen, die Dumpfheit war entflogen, die sie behinderte, das schwüle Band
gesunken, das sie umflocht. Ich setzte mich zwischen sie, ganz ohne
Feindlichkeit, und irgendeine Neugier suchte nun auch die Andere, deren Bild
mir der Schlaf fast entwunden. Und wirklich, zwischen Vater und Mutter am
Nebentisch saß sie dort, die ich suchte. Sie war heiter, ihre Schultern leicht,
und ich hörte sie lachen, klingend und unbesorgt. Neugierig umfaßte ich sie
mit dem Blick. Sie bemerkte mich nicht. Sie erzählte irgend etwas, das sie
froh machte, und zwischen die Worte perlte ein kindliches Lachen hinein.
Endlich sah sie gelegentlich auch zu mir hinüber, und bei dem flüchtigen
Anstreifen stockte unwillkürlich ihr Lachen. Sie sah mich schärfer an. Etwas
schien sie zu befremden, die Brauen schoben sich hoch, streng und gespannt
umfragte mich ihr Auge, und allmählich bekam ihr Gesicht einen
angestrengten, gequälten Zug, als ob sie sich durchaus auf etwas besinnen
wollte und es nicht vermöchte. Ich blieb erwartungsvoll mit ihr Blick in
Blick, ob nicht ein Zeichen der Erregung oder der Beschämung mich grüßen
würde, aber schon sah sie wieder weg. Nach einer Minute kam ihr Blick noch
einmal, um sich zu vergewissern, zurück. Noch einmal prüfte er mein
Gesicht. Eine Sekunde nur, eine lange gespannte Sekunde, fühlte ich seine
harte, stechende, metallene Sonde tief in mich dringen, doch dann ließ ihr
Auge mich beruhigt los, und an der unbefangenen Helle ihres Blickes, der
leichten, fast frohen Wendung ihres Kopfes spürte ich, daß sie wach nichts
mehr von mir wußte, daß unsere Gemeinschaft versunken war mit der
magischen Dunkelheit. Fremd und weit waren wir wieder einander wie
Himmel und Erde. Sie sprach zu ihren Eltern, wiegte unbesorgt die schlanken,
jungfräulichen Schultern, und heiter glänzten im Lächeln die Zähne unter den
schmalen Lippen, von denen ich doch noch vor Stunden den Durst und die
Schwüle einer ganzen Welt getrunken.
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Amok
Novellen einer Leidenschaft
- Title
- Amok
- Subtitle
- Novellen einer Leidenschaft
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1922
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 158
- Categories
- Weiteres Belletristik