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das Ganze ist eigentlich nur ein kleines Erlebnis. Aber wie ich dies Wort jetzt
hinschreibe, beginne ich schon zu bemerken, wie schwer es für einen
Ungeübten wird, beim Schreiben die Worte in ihrem rechten Gewicht zu
wählen, und welche Zweideutigkeit, welche Mißverständnismöglichkeit sich
an das einfachste Vokabel knüpft. Denn wenn ich mein Erlebnis ein »kleines«
nenne, so meine ich dies natürlich nur im relativen Sinn, im Gegensatz zu den
gewaltigen dramatischen Geschehnissen, von denen ganze Völker und
Schicksale mitgerissen werden, und meine es andererseits im zeitlichen Sinne,
weil der ganze Vorgang keinen größeren Raum umspannt als knappe sechs
Stunden. Für mich aber war dies – im allgemeinen Sinn also kleine,
unbedeutsame und unwichtige – Erlebnis so ungeheuer viel, daß ich heute –
vier Monate nach jener phantastischen Nacht – noch davon glühe und alle
meine geistigen Kräfte anspannen muß, um es in meiner Brust zu bewahren.
Täglich, stündlich wiederhole ich mir alle seine Einzelheiten, denn es ist
gewissermaßen der Drehpunkt meiner ganzen Existenz geworden, alles, was
ich tue und rede, ist unbewußt von ihm bestimmt, meine Gedanken
beschäftigen sich einzig damit, sein plötzliches Geschehen immer und immer
wieder zu wiederholen und durch dieses Wiederholen mir als Besitz zu
bestätigen. Und jetzt weiß ich auch mit einemmal, was ich vor zehn Minuten,
da ich die Feder ansetzte, bewußt noch nicht ahnte: daß ich mir dies Erlebnis
nur deshalb jetzt hinschreibe, um es ganz sicher und gleichsam sachlich
fixiert vor mir zu haben, es noch einmal nachzugenießen im Gefühl und
gleichzeitig geistig zu erfassen. Es ist ganz falsch, ganz unwahr, wenn ich
vorhin sagte, ich wollte damit fertig werden, indem ich es niederschreibe, im
Gegenteil, ich will das zu rasch Gelebte nur noch lebendiger haben, es neben
mich warm und atmend stellen, um es immer und immer umfangen zu
können. Oh, ich habe keine Angst, auch nur eine Sekunde jenes schwülen
Nachmittags, jener phantastischen Nacht zu vergessen, ich brauche kein
Merkzeichen, keine Meilensteine, um in der Erinnerung den Weg jener
Stunden Schritt für Schritt zurückzugehen: wie ein Traumwandler finde ich
jederzeit mitten im Tage, mitten in der Nacht in seine Sphäre zurück, und jede
Einzelheit sehe ich darin mit jener Hellsichtigkeit, die nur das Herz kennt und
nicht das weiche Gedächtnis. Ich könnte hier ebensogut auf das Papier die
Umrisse jedes einzelnen Blattes in der frühlingshaft ergrünten Landschaft
hinzeichnen, ich spüre jetzt im Herbst noch ganz lind das weiche staubige
Qualmen der Kastanienblüten; wenn ich also noch einmal diese Stunden
beschreibe, so geschieht es nicht aus Furcht, sie zu verlieren, sondern aus
Freude, sie wiederzufinden. Und wenn ich jetzt in der genauen
Aufeinanderfolge mir die Wandlungen jener Nacht darstelle, so werde ich um
der Ordnung willen an mich halten müssen, denn immer schwillt, kaum daß
ich an die Einzelheiten denke, eine Ekstase aus meinem Gefühl empor, eine
Art Trunkenheit faßt mich, und ich muß die Bilder der Erinnerung stauen, daß
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Amok
Novellen einer Leidenschaft
- Title
- Amok
- Subtitle
- Novellen einer Leidenschaft
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1922
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 158
- Categories
- Weiteres Belletristik