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sie nicht, ein farbiger Rausch, ineinanderstürzen. Noch immer erlebe ich mit
leidenschaftlicher Feurigkeit das Erlebte, jenen Tag, jenen 7. Juni 1913, da ich
mir mittags einen Fiaker nahm …
Aber noch einmal, spüre ich, muß ich innehalten, denn schon wieder werde
ich erschreckt der Zweischneidigkeit, der Vieldeutigkeit eines einzelnen
Wortes gewahr. Jetzt, da ich zum ersten Male im Zusammenhange etwas
erzählen soll, merke ich erst, wie schwer es ist, jenes Gleitende, das doch alles
Lebendige bedeutet, in einer geballten Form zufassen. Eben habe ich »ich«
hingeschrieben, habe gesagt, daß ich am 7. Juni 1913 mir mittags einen Fiaker
nahm. Aber dies Wort wäre schon eine Undeutlichkeit, denn jenes »Ich« von
damals, von jenem 7. Juni, bin ich längst nicht mehr, obwohl erst vier Monate
seitdem vergangen sind, obwohl ich in der Wohnung dieses damaligen. »Ich«
wohne und an seinem Schreibtisch mit seiner Feder und seiner eigenen Hand
schreibe. Von diesem damaligen Menschen bin ich, und gerade durch jenes
Erlebnis ganz abgelöst, ich sehe ihn jetzt von außen, ganz fremd und kühl,
und kann ihn schildern wie einen Spielgenossen, einen Kameraden, einen
Freund, von dem ich vieles und Wesentliches weiß, der ich aber doch selbst
durchaus nicht mehr bin. Ich könnte über ihn sprechen, ihn tadeln oder
verurteilen, ohne überhaupt zu empfinden, daß er mir einst zugehört hat.
Der Mensch, der ich damals war, unterschied sich in Wenigem äußerlich
und innerlich von den meisten seiner Gesellschaftsklasse, die man besonders
bei uns in Wien die »gute Gesellschaft« ohne besonderen Stolz, sondern ganz
als selbstverständlich zu bezeichnen pflegt. Ich ging in das sechsunddreißigste
Jahr, meine Eltern waren früh gestorben und hatten mir knapp vor meiner
Mündigkeit ein Vermögen hinterlassen, das sich als reichlich genug erwies,
um von nun ab den Gedanken an Erwerb und Karriere gänzlich mir zu
erübrigen. So wurde mir unvermutet eine Entscheidung abgenommen, die
mich damals sehr beunruhigte. Ich hatte nämlich gerade meine
Universitätsstudien vollendet und stand vor der Wahl meines zukünftigen
Berufes, der wahrscheinlich dank unserer Familienbeziehungen und meiner
schon früh vortretenden Neigung zu einer ruhig ansteigenden und
kontemplativen Existenz auf den Staatsdienst gefallen wäre, als dies elterliche
Vermögen an mich als einzigen Erben fiel und mir eine plötzliche arbeitslose
Unabhängigkeit zusicherte, selbst im Rahmen weitgespannter und sogar
luxuriöser Wünsche. Ehrgeiz hatte mich nie bedrängt, so beschloß ich, einmal
dem Leben erst ein paar Jahre zuzusehen und zu warten, bis es mich
schließlich verlocken würde, mir selbst einen Wirkungskreis zu finden. Es
blieb aber bei diesem Zuschauen und Warten, denn da ich nichts Sonderliches
begehrte; erreichte ich alles im engen Kreis meiner Wünsche; die weiche und
wollüstige Stadt Wien, die wie keine andere das Spazierengehen, das
nichtstuerische Betrachten, das Elegantsein zu einer geradezu künstlerischen
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Amok
Novellen einer Leidenschaft
- Title
- Amok
- Subtitle
- Novellen einer Leidenschaft
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1922
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 158
- Categories
- Weiteres Belletristik