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feuchte Stirn fahren, und der Kragen drückte mich. Noch immer wollte der
Start nicht beginnen.
Endlich klingelte die Glocke, die Menschen stürmten hin, und in dieser
Sekunde spürte ich entsetzt, wie auch mich dieses Klingeln gleich einem
Wecker erschreckt von irgendeinem Schlaf aufriß. Ich sprang vom Sessel so
heftig weg, daß er umfiel, und eilte – nein, ich lief – gierig nach vorne, die
Ticketts fest zwischen die Finger gepreßt, mitten in die Menge hinein und wie
von einer rasenden Angst verzehrt, zu spät zu kommen, irgend etwas ganz
Wichtiges zu versäumen. Ich erreichte noch, indem ich Leute brutal beiseite
stieß, die vordere Barriere, riß rücksichtslos einen Sessel, den eben eine Dame
nehmen wollte, an mich. Meine ganze Taktlosigkeit und Tollwütigkeit
erkannte ich sofort an ihrem erstaunten Blick – es war eine gute Bekannte, die
Gräfin R., deren hochgezogen zornigen Brauen ich begegnete –, aber aus
Scham und Trotz sah ich an ihr kalt vorbei, sprang auf den Sessel, um das
Feld zu sehen.
Irgendwo weit drüben stand im Grünen an den Start gepreßt ein kleines
Rudel unruhiger Pferde, mühsam in der Linie gehalten von den kleinen
Jockeis, die wie bunte Polichinelle aussahen. Sofort suchte ich den meinen
darunter zu erkennen, aber mein Auge war ungeübt, und mir flimmerte es so
heiß und seltsam vor dem Blick, daß ich unter den Farbenflecken den
rotweißen nicht zu unterscheiden vermochte. In diesem Augenblick klang die
Glocke zum zweiten Male, und wie sieben bunte Pfeile von einem Bogen
flitzten die Pferde in den grünen Gang hinein. Es mußte wunderbar sein, dies
ruhig und nur ästhetisch zu betrachten, wie die schmalen Tiere galoppierend
ausholten und, kaum den Boden anstreifend, über den Rasen hinfederten; aber
ich spürte von all dem nichts, ich machte nur verzweifelte Versuche, mein
Pferd, meinen Jockei zu erkennen, und fluchte mir selbst, keinen Feldstecher
mitgenommen zu haben. So sehr ich mich bog und streckte, ich sah nichts als
vier, fünf bunte Insekten, in einen fliegenden Knäuel verwischt; nur dieForm
sah ich allmählich jetzt sich verändern, wie das leichte Rudel sich jetzt an der
Biegung keilförmig verlängerte, eine Spitze vortrieb, indes rückwärts einige
des Schwarms bereits abzubröckeln begannen. Das Rennen wurde scharf: drei
oder vier der im Galopp ganz auseinandergestreckten Pferde klebten wie
farbige Papierstreifen flach zusammen, bald schob sich das eine, bald das
andere um einen Ruck vor. Und unwillkürlich streckte ich meinen ganzen
Körper aus, als könnte ich durch diese nachahmende, federnde,
leidenschaftlich gespannte Bewegung ihre Geschwindigkeit steigern und
mitreißen.
Rings um mich wuchs die Erregung. Einzelne Geübtere mußten schon an
der Kurve die Farben erkannt haben, denn Namen fuhren jetzt wie grelle
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Amok
Novellen einer Leidenschaft
- Title
- Amok
- Subtitle
- Novellen einer Leidenschaft
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1922
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 158
- Categories
- Weiteres Belletristik