Page - 90 - in Amok - Novellen einer Leidenschaft
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vor mir selbst: nun aber war die gepreßte Kraft aufgebrochen, das Leben, das
reiche, das unsäglich gewaltsame hatte mich überwältigt. Und nun wußte ich,
daß ich ihm noch anhing; mit der seligen Betroffenheit der Frau, die zum
erstenmal in sich das Kind sich regen spürt, empfand ich das Wirkliche – wie
soll ich es anders nennen – das Wahre, das Unverstellte des Lebens in mir
keimen, ich fühlte – fast schäme ich mich, solch ein Wort hinzuschreiben –
wie ich, der abgestorbene Mensch, mit einemmal wieder blühte, wie durch
meine Adern Blut rot und unruhig rollte, Gefühl sich im Warmen leise
entfaltete und ich aufwuchs zu unbekannter Frucht von Süße oder Bitternis.
Das Tannhäuserwunder war mir geschehen mitten im klaren Licht eines
Rennplatzes, zwischen dem Geschwirr von Tausenden müßiger Menschen:
ich hatte wieder zu fühlen begonnen, er grünte und trieb seine Knospen, der
abgedorrte Stab.
Von einem vorüberfahrenden Wagen grüßte ein Herr und rief – offenbar
hatte ich seinen ersten Gruß übersehen – meinen Namen. Unwirsch fuhr ich
auf, zornig, gestört zu sein in diesem süßrieselnden Zustand des sich in mich
selbst Ergießens, dieses tiefsten Traumes, den ich jemals erlebt. Aber der
Blick auf den Grüßenden riß mich ganz von mir weg: es war mein Freund
Alfons, ein lieber Schulkamerad und jetzt Staatsanwalt. Mit einemmal
durchzuckte es mich: dieser Mensch, der dich brüderlich grüßt, hat jetzt zum
erstenmal Macht über dich, du bist ihm verfallen, sobald er dein Vergehen
kennt. Wüßte er um dich und deine Tat, er müßte dich aus diesem Wagen
ziehen, weg aus der ganzen warmen bürgerlichen Existenz, und hinabstoßen
auf drei oder fünf Jahre in die dumpfe Welt hinter vergitterten Fenstern,
zum Abhub des Lebens, zu den andern Dieben, die nur die Peitsche der Not in
ihre schmierigen Zellen getrieben. Aber nur einen Augenblick lang faßte mich
kalt die Angst am Gelenk meiner zitternden Hand, nur einen Augenblick lang
hielt sie den Herzschlag an – dann verwandelte auch dieser Gedanke sich
wieder in heißes Gefühl, in einen phantastischen, frechen Stolz, der jetzt
selbstbewußt und beinahe höhnisch die andern Menschen ringsum musterte.
Wie würde, dachte ich, euer süßes kameradschaftliches Lächeln, mit dem ihr
mich als euresgleichen grüßt, anfrieren um die Mundwinkel, wenn ihr mich
ahntet! Wie einen Kotspritzer würdet ihr meinen Gruß wegstäuben mit
verächtlich geärgerter Hand. Aber ehe ihr mich ausstoßt, habe ich euch schon
ausgestoßen: heute nachmittags habe ich mich herausgestürzt aus eurer kalten
knöchernen Welt, wo ich ein Rad war, ein lautlos funktionierendes, in der
großen Maschine, die kalt in ihren Kolben abrollt und eitel um sich selber
kreist – ich bin in eine Tiefe gestürzt, die ich nicht kenne, doch ich bin
lebendiger gewesen in dieser einen Stunde als in den gläsernen Jahren in
eurem Kreis. Nicht mehr euch gehöre ich, nicht mehr zu euch, ich bin jetzt
außen irgendwo in einer Höhe oder Tiefe, nie mehr aber, nie mehr am flachen
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Amok
Novellen einer Leidenschaft
- Title
- Amok
- Subtitle
- Novellen einer Leidenschaft
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1922
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 158
- Categories
- Weiteres Belletristik