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Amok - Novellen einer Leidenschaft
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Page - 95 - in Amok - Novellen einer Leidenschaft

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Kind wollte eine Freude von mir: es mußte, so fühlte ich, etwas furchtbar Fremdes an mir sein, daß ich nirgends mich einmengen konnte, sondern abgelöst in der dicken Masse schwamm wie ein Tropfen Öl auf dem bewegten Wasser. Aber ich ließ nicht nach: ich konnte nicht länger allein bleiben. Die Füße brannten mir in den bestaubten Lackschuhen, die Kehle war verrostet vom aufgewühlten Qualm. Ich sah mich um: rechts und links zwischen den strömenden Menschengassen standen kleine Inseln von Grün, Gastwirtschaften mit roten Tischtüchern und nackten Holzbänken, auf denen die kleinen Bürger saßen mit ihrem Glas Bier und der sonntäglichen Virginia. Der Anblick lockte mich: hier saßen Fremde beisammen, verknüpften sich im Gespräch, hier war ein wenig Ruhe im wüsten Fieber. Ich trat ein, musterte die Tische, bis ich einen fand, wo eine Bürgerfamilie, ein dicker, vierschrötiger Handwerker mit seiner Frau, zwei heitern Mädchen und einem kleinen Jungen saß. Sie wiegten die Köpfe im Takt, scherzten einander zu, und ihre zufriedenen, leichtlebigen Blicke taten mir wohl. Ich grüßte höflich, rührte an einen Sessel und fragte, ob ich Platz nehmen dürfe. Sofort stockte ihr Lachen, einen Augenblick schwiegen sie (als wartete jeder, daß der andere seine Zustimmung gebe), dann sagte die Frau, gleichsam betroffen: »Bitte! Bitte!« Ich setzte mich hin und hatte gleich das Gefühl, daß ich mit meinem Hinsetzen ihre ungenierte Laune zerdrückte, denn sofort lag um den Tisch herum ein ungemütliches Schweigen. Ohne daß ich es wagte, die Augen von dem rotkarierten Tischtuch, auf dem Salz und Pfeffer schmierig verstreut zu sehen war, zu heben, spürte ich, daß sie mich alle befremdet beobachteten, und sofort fiel mir – zu spät! – ein, daß ich zu elegant war für dieses Dienstbotengasthaus mit meinem Derbydreß, dem Pariser Zylinder und der Perle in meiner taubengrauen Krawatte, daß meine Eleganz, das Parfüm von Luxus auch hier sofort eine Luftschicht von Feindlichkeit und Verwirrung um mich legte. Und dieses Schweigen der fünf Leute drosselte mich immer tiefer nieder auf den Tisch, dessen rote Karrees ich mit einer verbissenen Verzweiflung immer wieder abzählte, festgenagelt durch die Scham, plötzlich wieder aufzustehn, und doch wieder zu feige, den gepeinigten Blick aufzuheben. Es war eine Erlösung, als endlich der Kellner kam und das schwere Bierglas vor mich hinstellte. Da konnte ich endlich eine Hand regen und beim Trinken scheu über den Rand schielen: wirklich, alle fünf beobachteten mich, zwar ohne Haß, aber doch mit einer wortlosen Befremdung. Sie erkannten den Eindringling in ihre dumpfe Welt, sie fühlten mit dem naiven Instinkt ihrer Klasse, daß ich etwas hier wollte, hier suchte, was nicht zu meiner Welt gehörte, daß nicht Liebe, nicht Neigung, nicht die einfältige Freude am Walzer, am Bier, am geruhsamen Sonntagsitzen mich hertrieb, sondern irgendein Gelüst, das sie nicht verstanden und dem sie 95
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Amok Novellen einer Leidenschaft
Title
Amok
Subtitle
Novellen einer Leidenschaft
Author
Stefan Zweig
Date
1922
Language
German
License
PD
Size
21.0 x 29.7 cm
Pages
158
Categories
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